Als ich Olivier Creiche, Europachef des Blog-Unternehmens Six Apart, zum Ende unseres Gesprächs auf den immer wieder aufflammenden Streit zwischen Bloggern und Journalisten in Deutschland anspreche, muss er erst einmal herzlich lachen. „Ja, das kenne ich“, sagt er zu mir. „Das passiert, wenn Blogs eine gewisse Schwelle überschreiten. Vor einigen Jahren war das in Frankreich auch so.“ Ich solle mir aber keine Sorgen machen. In Deutschland seien wir in zwei, drei Jahren sicher auch so weit und alles werde sich normalisieren. Frankreich – das Blogger-Paradies?
Wenn es um erfolgreiche Blogs geht, richtet sich der Blick schnell auf die USA. Dabei liegen die besten Beispiele vor unserer Haustür, in Frankreich. Dort sind Blogs in der alltäglichen Mediennutzung selbstverständlich und sie spielen bei zentralen Ereignissen wie Wahlen eine wichtige Rolle.
Zahlen diverser Studien belegen diesen gefühlten Eindruck: Es gibt mehr Blogs und sie werden mehr gelesen und stärker wahrgenommen als in Deutschland. Aber woher kommt eigentlich die Begeisterung der Franzosen fürs Bloggen?
Andere Kultur
„Es ist klar, dass wir Franzosen ein großes Ego haben und sehr gern über uns sprechen“, hat der französische Web- und Blog-Pionier Loïc Le Meur einmal gegenüber der International Herald Tribune erklärt. Und er fügte hinzu: „Wenn man sich Deutsche oder Skandinavier offline und im Internet ansieht: Sie sprechen nicht über sich selbst.“
Das könnte passen: Auch in den USA ist die gekonnte Selbstdarstellung eher geachtet als geächtet. Wer in Deutschland hingegen den Kopf aus der Masse reckt, bekommt schnell einen übergebraten.
Andere Technik
Ein anderer Grund könnte in der Technik zu finden sein. Im Gegensatz zu Deutschland spielten Online-Services schon vor dem World Wide Web eine wichtige Rolle. Der „Minitel“ genannte Service ist mit BTX in Deutschland vergleichbar, kam ebenfalls Anfang der 80er Jahre auf, aber während BTX eine Randerscheinung blieb, konnte sich Minitel bei unseren französischen Nachbarn bestens durchsetzen. Es gilt als weltweit erfolgreichstes Online-Angebot in der Ära vor Erfindung des WWW. Noch 1996 soll mit dem Minitel in Frankreich mehr Umsatz gemacht worden sein als mit dem aufstrebenden World Wide Web in den USA.
Andere Relevanz
Wo auch immer die Gründe liegen, der Stand der Dinge ist klar: „Frankreich und die USA sind in Sachen Blogs wesentlich weiter als Deutschland“, sagte Olivier Creiche zu mir. Und auch Mario Grobholz, Country Manager Deutschland der französischen Blog-Plattform Overblog, sieht erhebliche Unterschiede in beiden Ländern: „Man kann sagen: Ganz Frankreich bloggt. Das ist kein Randthema mehr, das gehört dazu.“
Das erklärt auch die Zahlen von Overblog in Frankreich. Während zum Beispiel der „Blogcensus“ 2007 einmal rund 100.000 aktive deutschsprachige Blogs gefunden hat, sind allein bei Overblog in Frankreich schon 800.000 Blogs registriert. Und die französische Plattform Skyblog zählt über 18 Millionen Blogs, ein großer Teil davon im Mutterland. Schon 2006 erklärte Loïc Le Meur, in Frankreich läsen genau so viele Menschen Blogs wie traditionelle Zeitungen. Das könnte stimmen, wie aktuelle Zahlen von Universal McCann andeuten: Während in Deutschland 55,4 Prozent der Befragten schon Blogs gelesen haben, sind es in den USA 60,3 Prozent und in Frankreich 78 Prozent. Weltweiter Spitzenreiter ist übrigens Südkorea mit über 92 Prozent. Mehr zu den Ergebnissen in diesem PDF-Dokument (25,7 MB).
Andere Wirkung
Aber nicht nur die reinen Zahlen beeindrucken, auch die Wirkung der Blogs ist eine andere als in Deutschland. Erste Aufmerksamkeit hatten sie 2005 erlebt, als sie bei den Unruhen in Frankreich eine schnelle und authentische Informationsquelle waren. Und auch bei den Präsidentschaftswahlen spielten sie eine zentrale Rolle. „Herausragende Events wie Wahlen haben noch einmal einen großen Schub gegeben“, erklärt Mario Grobholz. In Deutschland könne das ebenso passieren. Vielleicht sind die Bundestagswahlen 2009 ein solcher Termin?
Und dann hören hoffentlich auch bald die Streitereien zwischen Journalisten und Bloggern auf. Olivier Creiche machte mir da Mut. „Vor drei Jahren war das in den USA und in Frankreich ebenfalls ein Thema. Aber ehrlich gesagt, fand ich die gesamte Diskussion sehr künstlich.“ Inzwischen interessiere das niemanden mehr. Die Menschen wüssten, was Blogs sind und was Journalisten tun und sie verstünden die Vorteile aus der Interaktion zwischen beidem. „Möglicherweise werden Sie auch in Deutschland in ein oder zwei Jahren darüber nichts mehr hören. Ich hoffe es für Sie!“
Vielleicht hätte ich damals doch lieber Französisch statt Latein als zweite Fremdsprache wählen sollen.
Jan hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Online-Journalist und Digitalpublizist. 2006 hat er das UPLOAD Magazin aus der Taufe gehoben. Seit 2015 hilft er als CONTENTMEISTER® Unternehmen, mit Inhalten die richtigen Kunden zu begeistern. Und gemeinsam mit Falk Hedemann bietet er bei UPLOAD Publishing Leistungen entlang der gesamten Content-Marketing-Prozesskette an. Der gebürtige Hamburger lebt in Santa Fe, New Mexico.
Von so Zahlen kann man in Deutschland ja nur träumen. Hoffentlich ist die Einschätzung richtig, wobei ich irgendwie fürchte, es könnte noch etwas länger dauern. Ich hatte mich übrigens leider auch gegen Französisch entschieden…