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Kolumne: Verfluchte Fragebögen!

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie wahrscheinlich ist es, dass du diesen Artikel weiterempfehlen wirst? Okay, das ist eine sinnlose Frage, schließlich hast du ihn noch gar nicht gelesen. Aber egal: Wie wahrscheinlich ist es denn nun? Spaß beiseite: In der ersten Ausgabe seiner neuen UPLOAD-Kolumne erklärt Jens Jacobsen, warum Fragebögen meist so unterirdisch schlecht sind – und was du auf jeden Fall vermeiden solltest, wenn du selbst einen erstellst. Ein Punkt: Fragen stellen, auf die deine Kundschaft gar keine Antwort weiß.

(Foto: © jminso, depositphotos.com)

Fragebögen sind ein Fluch. Mit diesem muss uns Menschen ein böser Zauberer belegt haben, Jahrzehnte ist es her, Jahrhunderte möglicherweise, damals im finsteren Mittelalter, als es noch gar kein Internet gab, dafür aber Zauberer. Dieser Zauberer muss ein ganz besonders bösartiger gewesen sein, denn er wusste: Sein Fluch wird erst so richtig wirken, wenn sich Fragebögen fröhlich reproduzieren können und die gesündesten Unternehmungen befallen.

Versteht mich nicht falsch: Ich selbst erstelle ständig Fragebögen, manchmal mehrere pro Woche. Und doch wünschte ich oft, Fragebögen wären nie erfunden worden. Zwar hätte ich dann ein Problem: Ich wäre einen empfindlichen Teil meiner aktuellen Aufträge los. Aber ich könnte gemütlich auf dem Balkon sitzen, meine freie Zeit genießen und müsste mich nicht herumärgern mit Menschen, die meinen, Fragebögen seien etwas Wunderbares.

Das sind sie nicht. Fangen wir mit dem kleineren Problem an: Ihr kennt das, jeder will ständig die Meinung von euch wissen. Alle paar Tage landet ein Mail im Postfach mit dem Link zu einer „ganz kurzen“ Befragung. Wir alle sind erstmal geschmeichelt, da will jemand unsere Meinung wissen, das ist ja nett. Wir wiegen uns in der scheinbaren Sicherheit, dass alles gut werden wird, wenn wir den Unternehmen sagen, was uns stört. Dass wir zum Beispiel total genervt sind, weil wir uns mit schlecht programmierten Chatbots herumschlagen müssen. Oder mit schlecht bezahlten und kaum ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die nach blödsinnigen Vergütungssystemen entlohnt werden – und uns dementsprechend wenig weiterhelfen. Genauso wenig interessiert die Unternehmen, dass unser Paket schon wieder nicht angekommen ist, der Inhalt nicht ordentlich verpackt war oder dass die ihre Website unnötig umständlich zu bedienen ist.

A N Z E I G E

neuroflash

 

Statt dessen werfen uns die geschätzten Unternehmen Fragen an die Kopf, auf die sie selbst keine Antwort wissen. Etwa, wie gut ihre Produkte unserem Bedarf entsprechen. oder wie wir das Preis-/Leistungsverhältnis der Produkte sehen. Und, natürlich, wie wahrscheinlich es ist, dass wir sie weiterempfehlen. Alles Sachen, die mich als Kunden nicht interessieren. Ich soll mich also abmühen, das Unternehmen zu verbessern. Kein Wunder, dass die Antwortraten lächerlich gering sind: Einstellige Prozentzahlen sind völlig normal. Da erging es dem Pfarrer und Forscher Jeremiah Milles im 18. Jahrhundert besser: Er nutzte als einer der ersten einen Fragebogen (– die Methode stammt also doch nicht aus dem Mittelalter?): Milles verschickte im Jahr 1753 eine mehrseitige Liste mit satten 120 Fragen – würde ich so etwas heute vorschlagen, wäre ich meinen Auftrag los. Und, wie hoch lag seine Antwortquote damals? Ganze 57 Prozent! Von solchen Werten können wir heute nur träumen. Klar, die Leute damals mussten auch nicht ständig Nachrichten auf WhatsApp oder Slack beantworten und auch nicht in überflüssigen Videokonferenzen herumhängen. Aber trotzdem, alle Achtung.

Graben wir noch etwas tiefer, lernen wir, dass der Brite Milles wohl nur einer der ersten war, der gedruckte Fragebögen verschickt hat. Handschriftlich ist die Methode nochmal ein paar hundert Jahre älter. Und hier landen wir tatsächlich im Mittelalter! Und zwei beim scheinbar passend betitelten Doomsday Book. Dieses Werk von 1086 ließ Wilhelm der Eroberer anfertigen, um einen Überblick zu haben, wer seiner Untertanen wie viel Steuern zu zahlen hatte. Damit war auch hier schon die Situation wie heute: Die Umfrage nützt nur den Befragenden, nicht den Befragten.

Doch das muss nicht so sein, natürlich kann ich einen Fragebogen erstellen, der angenehm auszufüllen ist, der kurz ist, der tatsächlich Dinge abfragt, welche wir gern weitergeben wollen – und der Befragten wie Befragenden gleichermaßen nutzt.

Daher zum zweiten, für mich viel störenderen Problem mit Fragebögen: Wir Menschen meinen, Fragen zu stellen sei einfach. Und einen Fragebogen zu erstellen erst recht. Der Haken ist: Das ist es beides nicht. Wer sich nur ein bisschen einliest, stößt schnell auf Zitate wie:

Oft ist eine direkte Frage der schlechteste Weg, eine wahre und nützliche Antwort auf eben diese Frage zu bekommen.

Erika Hall

Oder auf den Untertitel des Buchs von Rob Fitzpatrick: „Wie Sie mit Kunden sprechen und erfahren, ob ihre Geschäftsidee gut ist obwohl Sie jeder anlügt.“

In der Praxis heißt es dennoch in Unternehmen: Wir wissen nicht, welches Feature wir als nächstes entwickeln sollen – fragen wir doch einfach die Nutzenden! Wir haben keine Ahnung, welche Texte unsere Besuchenden lesen wollen – machen wir eine Umfrage! Wir wissen nicht, ob Kundinnen und Kunden diese Funktion verstehen – zeigen wir sie ihnen und fragen wir sie!

Ich bin es müde, auf solche Vorschläge zu antworten. Müde, zu erklären, warum sie keine gute Idee sind. Dazu gibt es viele, viele Artikel – Grundlage ist, dass wir Menschen einfach immer eine Meinung haben. Wir meinen zu wissen, was wir brauchen, was wir tun werden, was wir wollen. Untersuchung um Untersuchung belegt: Auch wenn wir das Gegenteil behaupten: Wir haben meist keine Ahnung, was wir brauchen, was wir tun werden. Wenn es auch noch um Features, Content oder Produkte geht kommt hinzu: Wir wissen gar nicht so genau, wie das jeweils aussehen soll. Die Befragenden haben vielleicht etwas ganz anders im Kopf als wir als Antwortende. Und ob wir das nutzen oder lesen werden – keine Ahnung. Hängt davon ab, wie es gemacht ist, in welcher Situation ich dem begegne, wie teuer oder aufwendig es ist, und von meiner Tagesform genauso.

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Bizarrerweise werden, um die Usability zu verbessern, oft Fragebögen genutzt, deren Usability unterirdisch ist. Wie ein erfolgreiches Produkt wird auch ein Fragebogen vor dem Start mit Vertreterinnen und Vertretern der Zielgruppe getestet. Und er wird nutzungszentriert entwickelt. Wir müssen uns dabei vor allem bremsen – fast alle Fragebögen sind zu lang. Und wir sind zwanghaft Sammelnde. Wir raffen Informationen zusammen, mit denen wir gar nicht wissen, was anfangen. Meine Kontrollfrage an die Stakeholder, ob eine Frage in den Fragebogen soll: Was ändert sich für euer Business, wenn ihr die Antwort auf diese Frage wisst? Wenn dann ein Schulterzucken kommt: Frage streichen.

Nur so können wir den Bann des bösen Zauberers brechen. Und Fragebögen wieder zu dem machen, was sie sein können: ein nützliches Werkzeug für Befragende und eine befriedigende Erfahrung für Befragte. Kurz, knackig, nutzungszentriert.


Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 102

Für Content-Spezialist:innen ist Sprache ein täglich genutztes Werkzeug und die treffenden Wörter zu finden, ist eine wichtige Fertigkeit. Darum dreht sich der Schwerpunkt dieser Ausgabe. Darin: Marketingsprech und andere Unsitten, Wortwahl in Krisenzeiten, KI-Schreibtools. Außerdem findest du darin die erste UPLOAD-Kolumne des Usability- und UX-Fachmanns Jens Jacobsen: Warum Fragebögen meist so unterirdisch schlecht sind. In zwei weiteren Kolumnen geht es um Content-Pläne, die mit der Wirklicheit kollidieren und warum „mehr Content“ meist nicht die richtige Antwort ist. Plus: Eine Anleitung für internationales Content-Marketing.

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