Zwei Lovestorms für Kai: Wenn das Internet zeigt, was es kann

„Das Netz ist ein guter Ort, wenn wir es gemeinsam dazu machen“, lautet das Vermächtnis von Johannes Korten. Er organisierte im Mai 2015 die Aktion #einBuchfuerKai, die einen legendären Lovestorm im Netz ausgelöst hat. Zwei Jahre später konnte mit #einRadfuerKai noch einmal daran angeknüpft werden. Hier ist die Geschichte von Kai und davon, was das Netz für ihn Gutes gebracht hat und auch weiter bewirkt.

Kai beim Skypen mit Annette
Kai beim Skypen mit Annette

Kai-Eric Fitzner war Mitte Vierzig und bereit neu durchzustarten, als ihn im Mai 2015 ein schwerer Schlaganfall traf: Von einem Moment auf den anderen war für ihn und seine Familie nichts mehr wie vorher.

Unter den Netzmenschen war Kai bereits bekannt. In ganz Deutschland reiste er umher, um Unternehmen klarzumachen, was es mit dieser Digitalisierung auf sich hat und warum sie daran nicht vorbeikommen. Heute schaut er sich die Mitschnitte seiner Vorträge von damals an und sagt: „Immer noch dasselbe! Aber ich kann nicht mehr helfen…“

Durch den Schlaganfall hat Kai nicht nur eine halbseitige Lähmung auf der rechten Seite, mit der er aber immerhin schon ein wenig laufen kann. Das Schlimmste für ihn ist die Aphasie: Eine Sprachstörung, die vor allem das Sprechen und Schreiben betrifft. Sprache ist aber nach wie vor Kais Steckenpferd. Nur leider kann er es nicht so umsetzen, wie er es im Kopf hat. Kai muss alles neu lernen. „Das frustriert gewaltig“, seufzt er.

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#einBuchfuerKai und Lovestorm Nr.1

Als Kai den Schlaganfall bekam, hatte er gerade nach jahrelangem Hin und Her seinen Roman „Willkommen im Meer“ selbst veröffentlicht und sich selbständig gemacht. Der älteste Sohn war bereits aus dem Haus, die Teenager-Tochter und der Kleinste im Kindergartenalter noch daheim. Kais Frau Raja hatte ein Zweitstudium zum Lehramt für Deutsch für Ausländer begonnen. Und dann der Schlaganfall. Plötzlich war alles in Frage gestellt: Würde Kai das überleben? Wenn ja, mit welchen Einschränkungen? Und wie sollte ganz praktisch die erste Zeit finanziell und organisatorisch überbrückt werden, bis alles Neue geklärt und organisiert werden könnte? Hilfesuchend wandte sich Raja über Kais Facebook-Profil an seine Kontakte und schilderte die Notsituation.

Rajas Hilferuf in Kai-Eric Fitzners Facebook-Profil
Rajas Hilferuf in Kais Facebook-Profil

In ihrer Hilflosigkeit dachte sie: Wenn nur genug Leute Kais Roman kaufen würden, dann würde das schon helfen. Wer aber schon mal ein Buch veröffentlicht hat, der weiß, dass man damit kaum was verdient und dass es auch eine Zeit dauert, bis das Geld beim Autor ankommt.

Das wusste auch Johannes Korten, einer von Kais Kontakten, der praktischerweise bei der GLS-Bank arbeitete, einer Bank mit sozialer Ausrichtung. Entsprechend verfügte er über ein großes und vor allem hilfreiches Netzwerk. Er erkannte, dass es mit Bücherkäufen nicht getan sein konnte, unterstütze Raja aber trotzdem darin, diesen eher langfristig ausgerichteten Teil der Hilfe unter dem Hashtag #einBuchfuerKai ins Rollen zu bringen. Zusätzlich richtete er ein Spendenkonto ein, über das innerhalb von zwei Wochen über 13.000 Euro für Kais Familie hereinkamen, so dass Raja die Frage, wie sie Miete und Leben finanzieren sollte, erst mal als erledigt wissen und sich ganz um Kai kümmern konnte.

„Willkommen im Meer“ kletterte unterdessen auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste und neben zahlreichen Blogs berichteten nun auch Offline-Medien über Kais Geschichte. Ein Lovestorm gigantischen Ausmaßes zog durchs Netz und darüber hinaus. Kai bekam von all dem nichts mit. Er lag im künstlichen Koma.

Auch den Medienrummel hielt Johannes Korten mit Helfern Raja und der Familie soweit als möglich vom Leib. Denn Kai war inzwischen zwar aufgewacht, konnte sich aber noch nicht mitteilen. Jetzt stand die Reha an und damit der Beginn eines langwierigen Genesungswegs für Kai. Erst jetzt konnte Raja ihm davon erzählen, was passiert war, und es dauerte seine Zeit bis Kai das vollends begreifen konnte.

Ein neuer Alltag

Während Kai sich nun bei seinen Therapien abmühte, begann Raja wieder ihre Arbeit an der Uni. Ab und zu postete sie über Kais Fortschritte in seinem Facebook-Profil, eine Gruppe wurde gegründet, in der jeder Kai gute Wünsche hinterlassen konnte, und so langsam flachte der Hype um #einBuchfuerKai wieder ab.

Der nächste große Einschnitt kam, als Kai aus der Reha nach Hause durfte und an einer Lesung seines Romans in einer Buchhandlung bei ihm zu Hause in Oldenburg teilnahm. Inzwischen hatte sich der Verlag Droemer Knaur seines Romans angenommen. So wurde „Willkommen im Meer“ nach und nach nicht nur in Paperback, sondern auch als E-Book und Hörbuch veröffentlicht.

Kai nahm unterdessen die Gestaltung seines Alltags zu Hause in die Hand. Die Therapien mussten weiter verfolgt und das Treppensteigen von und zur Wohnung im 2. Stock trainiert werden. Zuerst fanden Physio-, Ergotherapie und Logopädie deshalb bei ihm daheim statt. Aber das wurde bald zu eng. Also galt es, den Transport zu den täglichen Therapiesitzungen zu organisieren. Auch hier half der Freundeskreis und so manches Mal konnte auch über die Facebookgruppe jemand zum Einspringen gefunden werden.

Es dauerte dann auch nicht lang, bis Kai selbst wieder erste Schritte im Web unternahm. Zuerst nur als Zuschauer, dann mit einem Like hier und da und schließlich durch das Teilen von Beiträgen anderer. Denn selbst schreiben, das ging noch nicht. Aber auch so wurde er mit großem Hallo begrüßt.

Inzwischen hatte Kai von der Krankenkasse einen Elektrorollstuhl bekommen, um damit selbst zur Therapie zu fahren. Keine sehr motivierende Geste für jemanden, der gerade wieder das Laufen lernte. Eine Alternative musste her. Aber welche? In einem Fahrradladen in Oldenburg entdeckten Kai und Raja eine Liegerad, das Kai auch mit nur einer Hand steuern und mit nur einem Bein treten kann:

Kai beim Fahrrad-Ausprobieren
Kai beim Fahrrad-Ausprobieren

Aber würde die Kasse soetwas übernehmen? Wieder wandte sich Raja ratsuchend an Kais Follower. Und da kam ich ins Spiel. Mein Mann kennt sich berufsmäßig mit solchen Fällen aus und konnte schnell klären: Da ist nichts zu machen. Die Kasse ist dafür nicht zuständig, denn ein Fahrrad ist als Hilfsmittel nicht anerkannt, sondern wird als Sportgerät angesehen. Sport läuft aber unter Freizeitvergnügen, selbst wenn damit Muskeln trainiert und andere Dinge verbessert werden können. Da gibt es leider keinen Spielraum. Ein entsprechender Antrag wurde auch prompt abgelehnt. Aussicht auf Bewilligung bei Widerspruch gleich Null.

#einRadfuerKai als Crowdfunding

Doch wie schon beim ersten Mal hatte das Web eine Antwort parat: „Dann sammeln wir halt nochmal!“, schlug einer von Kais Followern vor und erntete damit großen Zuspruch. Diesmal ginge es ja um deutlich weniger Geld, da sollte das doch machbar sein. Aber wie sollte man das organisieren? Leider lebte Johannes Korten inzwischen nicht mehr, so dass wir ihn nicht um Rat fragen konnten.

Wie schon so oft in dieser Geschichte spielte das „einer kennt wen, der einen kennt, der einen kennt usw.“ eine Rolle. Ich erinnerte mich an meinen früheren Kunden Holger Nikelis. Vor über zehn Jahren war ich für Holgers Öffentlichkeitsarbeit auf dem Weg zu seinen ersten Paralympics zuständig gewesen. Anfang 2017 hatte er gerade seine aktive Sportlerzeit beendet und sich mit einer gemeinnützigen GmbH in Sachen Inklusion namens sport grenzenlos selbständig gemacht.

Holger war gleich begeistert von der Idee, wieder zusammen zu arbeiten, und schlug vor, das benötigte Geld via Crowdfunding zu sammeln. Mit fairplaid.org kannte er außerdem schon die passende Plattform. Auch Kai und Raja fanden die Idee, ein Crowdfunding zu veranstalten, gut. Denn damit könnte Kai diesmal nicht nur live dabei sein, sondern auch etwas zurückgeben. Also machte sich Holger gleich daran, sich einzuarbeiten.

Unterdessen hatten Kai und ich sein Blog mondspiegel.de wiederbelebt (inzwischen nicht mehr online) und dort die bisherige Geschichte in wöchentlichen Beiträgen für alle zugänglich gemacht. Nachdem wir uns dafür zu Anfang nur mit Hilfe von Raja absprechen konnten, näherten wir uns langsam aber sicher via Facebook-Chat und schließlich via Skype einer persönlichen Zusammenarbeit an. Da Kai noch nicht wieder schreiben kann, chattet er eben mittels Emojis.

Seit 11. Februar skypen wir außerdem täglich, was nicht nur uns, sondern auch seine Logopädin erfreut. Sie erzählte mir ganz begeistert, welche Schleusen das bei Kai geöffnet hätte. „Katalysator“ nennt Kai das. Und allein, dass er dieses komplizierte Wort einfach so rausbringt, spricht Bände. Diese und andere Fortschritte versuchen wir im Blog zu dokumentieren. Und auch das Crowdfunding wurde dort natürlich zum Thema.

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Lovestorm Nr.2

Als das Crowdfunding am 28. März startete, stellten wir es auf zwei Wochen Laufzeit ein. Keiner von uns hatte ja bisher so etwas durchgeführt. Tatsächlich erreicht wurde die nötige Summe jedoch bereits in zweieinhalb Tagen! Schon am ersten Abend waren es über 50 Prozent und #einRadfuerKai wurde dank Rouven Kasten von der GLS-Bank Trend auf Twitter!

Rouven twittert: Inernet zeig, was Du kannst! wir möchten Kai ein Spezialfahrrad finanzieren! #einRadfuerKai
Tweet von Rouven Kasten zu #einRadfuer Kai

Am zweiten Tag ging es genau so weiter, bis am Abend schon 85 Prozent erreicht waren. Am dritten Vormittag fehlten nur noch 7 Prozent. An dieser Stelle muss dann entweder jemand eine große Spende gemacht haben, oder es müssen viele kleine auf einmal eingegangen sein. Denn plötzlich sprang der Zähler von 93 auf 101 Prozent um! Crowdfundingsumme erreicht! Der Wahnsinn!

„Fertig“, war alles, was Kai noch rausbrachte, als er kurz danach von der Therapie nach Hause kam. Und damit meinte er nicht nur das Crowdfunding. Bei seiner Logopädin hatte er den Endspurt verfolgt und ihr noch mit der Übermittlung ihrer Spende geholfen, als er sah, dass die Summe erreicht war. Außerdem hatte er drei Nächte kaum geschlafen, so mitgenommen hat ihn der unglaubliche Erfolg dieser Aktion.

Seine Frau und ich hatten unterdessen auch deswegen mit den Tränen zu kämpfen, weil wir Kai dabei zuschauen konnten, wie er diesmal live miterlebte, wieviel Liebe und Gutes da aus dem Web zu ihm kam. „Unfassbar!“, murmelte er immer wieder, und „wie geil!“. Mehr ließen sein Staunen und die Aphasie nicht zu.

Nach dem ersten Schock und einer ordentlichen Portion Schlaf ging es dann aber bald besser. Bei unserem Gespräch am nächsten Tag vermeldete Kai dann strahlend: „Rad bestellt!“

Die Aussicht auf mehr Bewegungsfreiheit motiviert Kai ungemein. Während ich diesen Artikel schreibe, sind die zwei Wochen Laufzeit des Crowdfundings gerade mal halb um. Erst danach bekommen wir Zugriff auf die Daten und können die Geschenke organisieren, die als Prämien zu den einzelnen Spendenbeiträgen angeboten wurden.

Kai würde am liebsten schon jetzt allen schreiben – obwohl er das noch gar nicht kann. Er wird schon genug damit zu tun haben, überall seinen Namen drunter zu setzen. Außerdem wird er eine Fahrradtour mit einigen Spendern veranstalten und – sofern sich dafür Leute gemeldet haben – mit Holger zusammen zum Tischtennis zur Verfügung stehen. Alles Dinge, die er nicht mal eben so geregelt kriegt.

Aber so ist Kai: Von einer Herausforderung zur nächsten. Und wenn einer das schaffen kann, dann er!

Kai sagt Danke für #einRadfuerKai
Kai sagt Danke für #einRadfuerKai

Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 46

In dieser Ausgabe konzentrieren wir uns einmal auf die Dinge im Internet, die helfen, die voranbringen, die verbinden. Sie lesen darin, wie die virtuelle Gemeinschaft anderen Menschen hilft oder sich gegenseitig unterstützt. Sie erfahren, wie Sie selbst per App und Web Gutes tun können. Und wir erklären, woher eigentlich der Hass im Netz kommt und wie Sie ihm begegnen können.

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3 Gedanken zu „Zwei Lovestorms für Kai: Wenn das Internet zeigt, was es kann

  1. Als Oldenburger verfolge ich Kais Geschichte seit dem ersten Lovestorm immer mal wieder hier und da, aber nicht durchgehend. Vielen Dank für diese schöne Zusammenfassung!

    Als ich vor Kurzem völlig unerwartet erfahren habe, wie sich Aphasie anfühlt, musste ich sofort an Kai denken.

    Bei mir war es nach zwei Tagen wieder vorbei, aber ich weiß jetzt wie es ist, wenn Gedanken den Weg zu den Worten nicht finden, also quasi am Rammbock der Aphasie hängenbleiben.

    Albtraum. Und dir, Kai, alles Gute!

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