Auch im Internet haben lange Texte ein Publikum, aber haben sie auch einen Markt? Führende Verlage versuchen es derzeit mit großen, interaktiven Multi-Media-Reportagen. Die Geschichte der Tour-de-France von Zeit Online ist das jüngste Beispiel dafür. Andere wiederum versuchen eher mit Schlichtheit, Text und Formatvielfalt zu punkten. Wir haben die Pros und Contras mal durchleuchtet und das Rennen um die Rettung der „Long Reads“ ein wenig kommentiert.
Letztens war es wieder soweit: Die Reise durch die tägliche Nachrichten-Flut endete abrupt bei einer Geschichte mit etwa 18.000 Anschlägen. Kurz den Text überfliegen und einen weiteren Tweet absetzen: aussichtslos. Zumal die Story in dieser Ausführlichkeit wohl kaum jemanden interessiert hätte: “The Mystery of the Missing Hotel Toothpaste”.
Mich interessierte der Fall dagegen brennend, denn ich hatte bei meiner letzten Reise die Zahnpasta vergessen. Und zugegeben machte es Spaß, auf die staatstragenden Nachrichten zu pfeifen und sich in einer “investigativen Reportage” zu verlieren, die in dieser Kuriosität und Schlichtheit vielleicht auch nur im Web-Zeitalter entstehen kann.
Zwei Wochen später landete ich wieder bei einer Reportage mit etwa 18.000 Anschlägen. Damit waren die Gemeinsamkeiten allerdings vorbei. Denn Zeit Online hatte mit einem Rückblick auf 100 Jahre Tour de France ein zeitlich gut platziertes Thema gewählt und einen besonderen Schwerpunkt auf die Aufbereitung gelegt: Nicht weniger als fünf Videos, vier Slideshows und zwei interaktive Statistiken verteilen sich auf drei große Kapitel, zeitgemäß aufgemacht als Single-Page mit Scroll-Navigation.
Beide Veröffentlichungen führten mich zu ähnlichen Fragen, und diese Fragen sind nicht gerade neu: Gibt es im Netz noch einen Markt für ausführliche Geschichten und verkaufen sie sich besser über den multimedialen Aha-Effekt?
Inhaltsverzeichnis
Das Vorbild
Nach dem Vorbild für Zeit Online muss man nicht lange suchen: “Snow Fall – The Avalanche at Tunnel Creek”. Mit dieser opulenten interaktiven Geschichte hatte die New York Times im Dezember 2012 eine Duftmarke gesetzt. Die Reportage erzählt – großartig aufbereitet und multimedial bespickt – von einem Lawinenunglück, bei dem Anfang 2012 eine Gruppe von Extremsportlern in den USA ums Leben kam.
Seit der Veröffentlichung wurde „Snow Fall“ immer wieder als die Zukunft der journalistischen Langform gefeiert. Im April 2013 räumte die Reportage dann folgerichtig den Pulitzer-Preis in der Kategorie „Feature Writing“ ab. Allerdings hatte der Preis auch seine Kosten.
Der Aufwand
Angesprochen auf „Snow Fall“ und die Tour-de-France-Geschichte winkte ein befreundeter Journalist sofort ab: “Viel zu aufwändig, nichts für das journalistische Tagesgeschäft”. Obwohl Reportagen sein Spezialgebiet sind. Und tatsächlich war der Aufwand gigantisch: Ganze sechs Monate hat ein Team an Snow Fall gearbeitet. Sechs Kapitel wurden geschrieben, zahlreiche Interviews geführt, unzählige Fotos, Slideshows und Videos erstellt, und und und.
Etwas bescheidener gibt sich Zeit Online zwar schon, aber auch bei der Tour-de-France-Reportage liest sich das Impressum recht lang: Knapp 20 Personen werden aufgeführt – von Autoren über den Entwickler und vom Interactive bis zum Berater für Sportmedizin. Auch das ist ganz sicher nichts für das Tagesgeschäft, was rechnen sich die Verlage also aus?
Die Kalkulation
Es ist wenig einfallsreich, bei derart kreativen Projekten sofort nach dem Geschäftsmodell zu fragen. Aber einer sitzt ja immer im Saal, der genau das macht.
Die New York Times hat die Frage mit 3,5 Mio. Views in einer Woche beantwortet. Und weil auf der Seite keine Werbung geschaltet ist, lautet die zweite Antwort “E-Book”. Denn Snow Fall war gleichzeitig der Auftakt für eine Partnerschaft mit dem Publisher Byliner, der ein Subscription-Modell für Long-Form-Stories von renommierten Autoren in allen denkbaren E-Book-Formaten anbietet. Ob das alles zusammengenommen – direkte Besucher, E-Book-Publishing, Nebeneffekte durch die Publicity und nicht zuletzt die 10.000 US-Dollar vom Pulitzer-Preis – den Aufwand wirklich wieder reingespielt hat … wer weiß es schon.
Zeit Online hat womöglich eine eigene Kalkulation, denn das Timing war in doppelter Hinsicht geschickt: Die interaktive Reportage kam nicht nur parallel zur laufenden Tour de France und ihrem 100-jährigen Jubiläum heraus, sondern auch kurz vor der Ankündigung einer Paywall, die der Verlag über einen anderen Kanal streute. Kein Wunder, dass interaktive Geschichten wie „Am Berg der Fahrrad-Verrückten“ gleich als Kandidaten für die Paywall gehandelt wurden. Und gut möglich, dass der multimediale Aha-Effekt dem Leser den nötigen Schubs über diese Paywall geben soll. Warum auch nicht: Wenn es um den Erhalt tiefer Recherchen und ausführlicher Geschichten geht, ist aus meiner Sicht jeder Versuch erlaubt.
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Die Kritiker
Dennoch gibt es auch Kritik. Entzündet hat sie sich an dem Startup Scroll Kit, das Snow Fall in weniger als einer Stunde nachgebaut hat und damit seinen Multi-Media-Story-Builder bewarb. Die New York Times reagierte verschnupft und verlangte wegen Urheberrechtsverletzung die Löschung der Kopie. Der Fall wurde von mehreren Tech-Blogs aufgegriffen, von daher war die Werbeaktion für Scroll Kit durchaus erfolgreich. Besonders geschmackvoll fande ich sie allerdings nicht.
Doch bei der Kritik an der Reaktion der New York Times blieb es dann nicht. McKenzie stellte in Pando Daily die Frage, was eigentlich passiert, wenn sich der Aha-Effekt durch hunderte von interaktiven Geschichten irgendwann abgeschliffen hat? Die New York Times und – wenn die Vermutung zutrifft – auch Zeit Online haben das offensichtlich begriffen und nutzen die Aufmerksamkeit vor allem, um neue Pay-Modelle zu bewerben. Von daher sind die Aktionen zum guten Teil auch Mittel zum Zweck. Denn einfach nur Multimedia-Geschichten zu verkaufen, das hat laut McKenzie schon lange vor der New York Times das Startup Atavist versucht – mit überschaubarem Erfolg.
Die Interaktivität
Ganz zuletzt stellt McKenzie noch eine Frage, die mir bei der Reportage über die Hotel-Zahnpasta auch in den Sinn gekommen ist: Braucht eine interessante und gut recherchierte Geschichte eigentlich unbedingt aufwändige Multimedia-Elemente, um lesenswert zu sein?
Denn seien wir mal ehrlich: Interaktivität und Multimedia sind keine wirklich neue Sache. Da kann man schon mit der CD-ROM anfangen und den Bogen über den (interaktiv aufbereiteten) Datenjournalismus beim Guardian spannen. Und auch technisch ist das ganze keine Hexerei: Fancy Single-Pages gibt es seit Jahren, Videos und Slideshows sogar noch länger und für interaktive Charts werden wir jede Woche mit einer neuen Javascript-Bibliothek bombardiert. Frontend-Entwickler dürfte das wenig beeindrucken. Und das Publikum wird sich eben auch irgendwann daran gewöhnen.
Hinzu kommt die etwas fade Erinnerung an die aufwändig produzierten iPad-Magazine: Damals sahen die Verlage endlich eine Chance, mit solchen Produktionen in der Kostenlos-Kultur des Webs möglichst hohe Preise durchzudrücken. Wie wir heute wissen mit eher ausbleibendem Erfolg.
Die Länge
Was übrig bleibt, wenn man die multi-medialen Elemente abzieht, ist der lange Text und die gut recherchierte Geschichte. Leser gibt es dafür bestimmt, das zeigen die “longforms” von Buzzfeed, die “deep reads” von Flipboard oder auch Medien wie das Smashing Magazine, das seit Jahren auf wenige, dafür aber hochwertige und umfassende Inhalte setzt. Doch ob es auch einen Markt dafür gibt?
Ansätze findet man einige: die Kindle Singles, die ganze Micro-Publishing-Bewegung von The Magazine bis Periodical, oder auch ganz einfache Subscription-Modelle in der Nische wie zum Beispiel die Dossiers von Mobile Zeitgeist. Ob das am Ende tragfähiger ist, weiß man derzeit noch nicht.
Das Fazit
Spannend ist es auf jeden Fall, was die großen Zeitungen da machen: Designer, Entwickler, Autoren, Interactives – alle erzählerischen Möglichkeiten des Webs werden in einer neuen Form der Reportage vereint. Ob es diesen ganzen Aufwand braucht, um den Leser für eine Geschichte zu begeistern und ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln, kann derzeit noch niemand wissen. Ein Versuch ist es jedoch allemal Wert.
Dennoch finde ich es beruhigend, dass sich auf der anderen Seite mit den Kindle Singles, Micro-Publishing oder Subscription-Modellen auch ein Markt für schlichtere Langformen entwickeln könnte, denn die aufwändigen Produktionen sind nun einmal kein Modell für alle. Am Ende ist es jedoch egal, ob es eher mit Zahnpasta oder besser mit Multimedia gelingt: Hauptsache die Geschichten gehen uns nicht verloren.
Lesetipps
- Von der Interaktivität: Gerade hat Lorenz Matzat auf Datenjournalist.de eine Serie zu interaktiven Geschichten gestartet, in der er sich auch mit Games und Karten beschäftigen will. Lesenswert.
Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 1
Die erste Ausgabe! Darin: Gastautorin Dr. Kerstin Hoffmann über Content-Strategie. Außerdem: die Rettung der „Long Reads“, Jack Contes „Patreon“, Plädoyer für das Corporate Blog.
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Sebastian ist Senior Product Owner und Web-Entwickler. Seit 2017 entwickelt er das kleine Open Source CMS Typemill und betreibt damit unter anderem cmsstash.de, eine Fach-Publikation zum Thema Content Management Systeme.
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