Von Pebble bis Apple Watch, dazu Fitnessarmbänder wie Jawbone Up: Der Kampf um den Platz an unseren Handgelenken ist unter den Herstellern voll entbrannt. Aber was haben wir als Nutzer eigentlich davon? Unser Artikel nimmt den aktuellen Hype einmal kritisch unter die Lupe.
“Und sie waren beide nackt, der Mensch und das Weib, und schämten sich nicht.” (1 Mose 2:25).
Einst wurden analoge Taschenuhren wie Erbstücke von Generation zu Generation gereicht, vom Großvater zum Vater, vom Vater zum Sohne. Filmemacher Quentin Tarantino persiflierte diese Tradition in einer Szene seiner Gangstergroteske „Pulp Fiction“: Schwergewichtsboxer Butch erinnert sich an ein Geschehnis in seiner Jugend, als ein Vietnam-Veteran ihm die heimlich aus dem Dschungel herausgeschmuggelte Taschenuhr seines dort verstorbenen Vaters überreicht. Butch ist eigentlich auf der Flucht, hat dieses besondere Erbstück aber vergessen und begeht an dieser Stelle im Film einen Fehler, der die Handlung entscheidend beeinflussen wird.
In meiner Kindheit – es waren die 1980er Jahre – waren mittlerweile Armbanduhren gefragt. Der erfolgreiche Jungmanager blickte cool mit einer goldenen Rolex von der Plakatwand auf uns herab (und tut das bis heute), während im Sportunterricht der Mitschüler der Gefragteste war, der die neueste Digitaluhr mit Stoppfunktion um den Arm trug.
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Inhaltsverzeichnis
Schlicht die Zeit anzeigen – das war immer schon zu wenig
Schon damals war uns Schülern klar: Einfach nur die Zeit anzuzeigen – das ist auf Dauer kein Grund, weshalb man ein Gadget morgens aus der Schublade kramt. Uhren mussten mehr können und das Datum ebenso anzeigen wie eine Countdown-Funktion bieten. In den 1990er Jahren blickten die ersten zur Innovation verdammten Uhrmacher dann bereits ein Stück weit über den Tellerrand: Swatch integrierte den Funkruf Scall in eins seiner Modelle und Konkurrent Casio brachte eine G-Shock mit Barometer und Thermometer auf den Markt. Zwei Erfahrungen nahmen heutige Hersteller aus der damaligen Zeit mit: Eine gute Armbanduhr kann entweder als modisches Accessoire dienen oder eine Vielzahl von Funktionen für den praktischen Gebrauch mitbringen. Beides zusammen war praktisch nicht zu vereinen – bis die Apple Watch kam.
So hätten es die Verantwortlichen in Apples Hauptquartier in Cupertino zumindest gerne, nachdem sie die Uhr im September 2014 nach Jahren der mehr oder weniger zutreffenden Gerüchte endlich vorstellten. Die Apple Watch soll je nach Armband und Accessoires teuer und elegant oder sportlich und jugendlich aussehen können. Ein modisches Ziffernblatt zeigt das Display der Uhr immer an, doch darunter verbergen sich eine Vielzahl von Funktionen. Erkauft ist diese Insellösung aus Vielseitigkeit und Eleganz zumindest im ersten Modell mit einer enttäuschend kurzen Akkulaufzeit. Nicht einmal über einen Tag dürfte man damit kommen, wenn man die Uhr zu zahlreich für den Abruf von Nachrichten, eigenen Bewegungsdaten, dem Wetter oder dem Empfang von Telefongesprächen einsetzt. So jedenfalls die Gerüchte, denn von Apple gibt es dazu bislang nur vielsagendes Schweigen.
Man ging längst ohne
Das sieht bei einem Modell ganz anders aus, das diesen neuerlichen Boom erst ausgelöst hat: die Pebble. Armbanduhren waren zuvor schon so gut wie ausgestorben, denn Handys und Smartphones hatten Einzug in unseren Alltag gehalten, bei denen die Zeitanzeige nur eine von hunderten Funktionen war. Nicht wenige Uhrmacher erlebten das schlechteste Geschäft seit Jahrzehnten, einige verabschiedeten sich für immer vom Markt. Da plötzlich platzte dieses kleine Startup dazwischen und stellte einen Rekord auf.
Es war wie die Erscheinung am Nachthimmel in den frühen 1990er Jahren als die heile Welt des Rock’n’Roll plötzlich von dieser neuen Richtung namens Grunge in Unordnung gebracht wurde: ein Independent-Erfolg. Pebble sammelte mehr als 10 Millionen US-Dollar über das Crowdfunding-Portal Kickstarter ein – für einen verlängerten Smartphone-Arm. Ein Rekord, der erst zwei Jahre später gebrochen werden sollte. Dabei handelt es sich dabei nur um eine Uhr mit monochromem E-Ink-Display, die die neuesten eintreffenden Nachrichten vom Smartphone einfach auf dem Handgelenk spiegelt. Lange durchhalten sollte der Akku, vielseitig sein die Uhr. Und ganz nebenbei sah sie auch noch chic aus. Der junge kanadische Ingenieurstudent Eric Migicovsky hatte einfach einmal in die Tat umgesetzt, wovon er sein Leben lang geträumt hatte. Und er traf damit genau den Nerv der Zeit.
Endlich wieder „angezogen“
Pebble platzte mitten in die Hochsaison der Smartphones und Tablets, als die damaligen Protagonisten der Szene schon ahnten, dass sie etwas Neues brauchen würden, um ihre Kunden auch in einigen Jahren noch bei der Stange zu halten. Sie sahen die Pebble, sahen, dass sie gut war und fühlten sich dazu berufen, es genauso, gar besser zu machen. Seitdem rollt die Welle der Armbandgadgets über uns.
Es kamen Smartwatches, die den Erfolg der Pebble imitierten, es kamen aufgemotzte Ziffernblätter mit Social-Media-Benachrichtigungen oder Sportergebnissen. Es kamen Fitnessarmbänder, die unsere Kondition, unsere Nahrungsaufnahme, unseren Schlaf, ja, uns auf Schritt und Tritt überwachen sollten. Und es kamen Smartwatches in Hülle und Fülle, jede noch etwas besser oder anders als die andere. Mit Schrittzähler, mit Pulsmesser, mit Social-Media-Benachrichtigungen, mit LED-Notification, mit der Möglichkeit, Kurznachrichten zu lesen und Telefongespräche anzunehmen. Wir ließen uns darauf ein, wir testeten munter, wir waren nicht mehr nackt ums Handgelenk und wir schämten uns nicht.
Der gewünschte Heilsbringer der IT-Industrie?
Und doch blieb und bleibt so mancher Gadgetfreund ratlos zurück. Die meisten Smartwatches gehen via Bluetooth mit einem Smartphone online, das folglich immer dabei sein muss. Das erinnert Kritiker der Dauerbeschallung arg an ein Bluetooth-Headset und scheint für sie nur für solche Nutzer geeignet, denen selbst der minütliche Blick auf das Smartphone nicht mehr ausreicht. Für die aber dürfte die Akkulaufzeit kaum genug sein, die bei LEDs sogar bei nur mäßigem Gebrauch selten einen Tag übersteigt. Dann wäre da noch die Frage nach der nicht immer besonders hübschen Optik einiger Modelle. Und so manch ein möglicher Nutzer fragt sich: Bringt so eine Smartwatch eigentlich mir einen Vorteil oder nur den Herstellern?
Denn dass sich die Samsungs, LGs, aber auch Apples und Googles dieser Welt über diese neue Produktkategorie freuen, leuchtet ein. Erst begann das Geschäft mit klassischen PCs nachzulassen, wenig später gingen immer weniger Laptops über die Ladentheke. Es kam eine hoffnungsvolle neue Kategorie ins Spiel, Netbooks, doch deren Stern war nach wenigen Jahren wieder verglüht. Selbst Smartphones und Tablets, die neuen Heilsbringer, konnten sich nicht viel häufiger verkaufen, als Kunden für sie da waren, und versauten zuletzt sogar die Quartalsergebnisse einst unerschütterlich wirkender Großkonzerne wie Samsung. Eine neue Kategorie musste her, aber welche sollte das sein? Das Internet der Dinge? Heimvernetzung? TV-Konsolen? Der Erfolg der Pebble schien für sich zu sprechen und den milliardenschweren PC- und Smartphoneherstellern die Kosten für teure Marktforschung zu sparen: Smartwatches würden es sein, das schien nun festzustehen.
Braucht man nicht, will man aber vielleicht?
Beobachter der Szene sehen das etwas anders. Technikautor Jay Bear behauptet, niemand brauche eine Smartwatch und werde das auch nie tun: „Der Tag, an dem ich zu faul bin, Telefongespräche am Telefon anzunehmen und eine Armbanduhr dafür brauche, ist der Tag, an dem ich es mit der Technik bleiben lasse.“ Technikreporterin Lisa Ludwig nennt Smartwatches die „nutzlosesten und überhyptesten Gadgets seit dem Nicolas-Cage-Ganzkörperanzug“. Und Kolumnist Julian Heck war angesichts der Fülle neuer Geräte auf der jüngsten IFA gar so gemein, Smartwatches mit Kandidaten aus „Deutschland sucht den Superstar“ auf eine Stufe zu stellen: „Da werden reihenweise vermeintliche Superstars präsentiert, aber in Wahrheit ist nicht wirklich jemand dabei, der sich auf Dauer halten kann.“
Etwas diplomatischer vermittelt es Archibald Preuschat vom Wall Street Journal, der Smartwatches zwar ebenfalls wenig Nutzen attestiert, aber zumindest einige „echte Hingucker“ sieht.
Geht es am Ende vielleicht wieder einmal nur darum? Beim ersten iPhone gab es anfangs auch Kritik. Doch am Ende war das Interesse so groß, dass niemand sich mehr an der erbärmlichen Akkulaufzeit von Smartphones störte: Kommt ein neues Apple-Produkt auf den Markt, so blicken die Augen vieler Spötter nicht selten neidisch rüber zu den ersten Besitzern. Und irgendwie will man das dann doch mal ausprobieren. So auch bei der Apple Watch?
Der Uhr verfallen ohne zu wissen wieso
Natürlich gibt es inmitten dieser eher skeptischen ersten Berichterstattung auch positive Stimmen, allen voran die der Early Adopter, die sich über bunte Produktbildchen und smarte Technik freuen und am Ende jedes neue Gadget haben müssen, ob sie es nun brauchen oder nicht. Diesen Zug dürfte wohl Stephan Serowy von AndroidPit über die Gleise lenken, der Motorolas Android-Wear-Smartwatch Moto 360 verfallen ist und selbst gar nicht so genau weiß, warum eigentlich. „Ihr braucht keine Apple Watch, aber ihr könntet durchaus eine wollen“, attestiert Will Oremus der Apple-Uhr derweil einen hohen Want-Faktor. Brad Epstein immerhin gibt zu, dass er eine möchte, weil er sie „sexy“ findet. Und in Gadget-Girl Clarissa Turner findet sich endlich auch jemand, der die Apple Watch unbedingt haben möchte: „Weil sie Persönlichkeit hat, Spaß und das Leben einfacher macht“.
Andreas Proschofsky vom „Standard“ immerhin hat eine Smartwatch einen Monat lang getestet und kommt zu dem durchaus überraschenden Urteil: „viel nützlicher als erwartet“. Zwar sei die Hardware seiner Testuhr mit Googles Android Wear noch kaum marktreif und das System auch noch höchst unfertig, doch im langen Test zeige sich, dass eine Smartwatch ein hilfreicher Begleiter sein kann. Zu einem ähnlichen Urteil kommt Tobias Gölzer nach dem Test mit einer Pebble. Immerhin nach wenigen Tagen habe er sich an die E-Ink-Smartwatch gewöhnt, und sie habe vor allem zu einem geführt: dass er nicht mehr, wie alle anderen, gebannt auf sein Smartphone starre und die Umgebung um sich herum vergesse: „Das Wort ‘unkommunikativ’ ist in der letzten Woche noch nicht einmal gefallen!“
Pragmatiker sehen eine Chance in den neuen Geräten: Sie können nicht nur, sie müssen das Wesentliche auf einen Blick anzeigen, um den Besitzer überhaupt dazu zu bringen, das Gerät jeden Morgen neu anzulegen. Ganz neue Formen von Kommunikation und Journalismus sind möglich. Sei es das aktuelle Wetter auf einen Blick, der schnellste Weg zum nächsten Termin, den Google Now ungefragt und ohne Zutun auf dem Display einblendet, oder auch das, was Apple vorgestellt hat: Die Apple Watch soll eine Funktion erhalten, um Emotionen über Fernvibration zu übertragen. Statt einer „Ich liebe dich :-*“-Nachricht an den Partner also künftig ein kurzer, echter Anstupser. Warum eigentlich nicht.
Nicht länger unkommunikativ dank einer Smartwatch?
Kann eine Smartwatch uns von unserem Smartphone-Joch eher befreien als unsere Symptome noch zu verschlimmern und haben die Geräte wirklich etwas, was kein Smartphone bieten kann? Dann hätten die Hersteller ein Argument.
Es gibt die eine Seite: Die Wünsche der Anbieter nach neuen Märkten, in gewisser Weise sogar ein Nebenkriegsschauplatz zwischen Apple und Google um die Vorherrschaft der Systeme. Nach Smartphones, Tablets, Laptops, Fernsehern und Autos bekriegen sich die beiden IT-Schwergewichte nun also auch noch auf dem Handgelenk. Dafür überzeugt die bisherige Technik aber noch zu wenig.
Und da ist die andere Seite der Medaille: Uhren und Fitness-Armbänder, die sich wirklich anschicken, unser Leben besser zu machen. Das Potenzial dazu haben sie. Aber bisher fehlt noch das, was man früher gerne „Killerapplikation“ nannte. Der Grund, warum man so eine Smartwatch unbedingt haben will und nachts nicht mehr ruhig schlafen kann, ehe man sie besitzt. Der muss derzeit noch gefunden werden.
tl;dr
Die Hersteller wollen aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus dafür sorgen, dass wir unser Handgelenk endlich wieder bedecken. Einiges davon hat durchaus das Potenzial, unser Leben besser zu machen, doch die Technik steckt noch in den Kinderschuhen. Und man wird man das Gefühl nicht los, dass es hier eher um die Interessen der Hersteller geht als um die der Kunden. Ehe sich das nicht umkehrt, laufen Handgelenksgadgets Gefahr, am Ende keinem vom beiden zu helfen.
Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 16
Wenn wir übers Internet sprechen, geht es nicht mehr nur um Apps und Websites, auch die Hardware spielt eine zunehmend wichtige Rolle. In manchen Fällen werden Gegenstände gar zum Teil des Netzes – Stichwort „Internet der Dinge“. Um diese und andere Themen dreht sich diese Ausgabe.
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Jürgen Vielmeier ist Diplom-Journalist (FH) und seit 15 Jahren als Blogger, Technikjournalist und Berufsskeptiker im Netz aktiv. Nach seiner Zeit als Redakteur und Projektleiter beim deutschen Techblog Basic Thinking wechselte er zu Neuerdings.com und Netzwertig.com und ist heute außerdem freiberuflicher Texter. Jürgen lebt und arbeitet in Bonn.
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1 Gedanke zu „Kampf ums Handgelenk: Die große Hoffnung auf die Smartwatch-Milliarden“
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