Wie schafft es ein Unternehmen, gezielt über das Tagesgeschäft hinauszuschauen und in seine eigene Zukunft zu investieren? Darum geht es beim „3-Horizonte-Modell“, das dieser Beitrag vorstellt. Die Autoren Dr. Jürgen Hoffmann und Stefan Roock erklären es dabei nicht nur, sondern haben darüber hinaus nützliche Tipps aus der Praxis parat, die sie an konkreten Beispielen erläutern.
Dieser Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus dem Buch „Agile Unternehmen“, erschienen im dpunkt-Verlag. Mehr dazu am Ende des Beitrags!
Inhaltsverzeichnis
Teil 1: Das 3-Horizonte-Modell vorgestellt
Das 3-Horizonte-Modell unterscheidet drei Innovations- und Wachstumshorizonte [Baghai et al. 2000], die in Abbildung 1 dargestellt sind. Jedes Unternehmen, das langfristig wachsen möchte, muss alle drei Horizonte abdecken.
In Horizont 1 findet das aktuelle Geschäft statt; dort wird aktuell das Geld verdient. Wenn ein Startup erfolgreich wird, wächst es schnell bezüglich der Umsätze. Irgendwann tritt allerdings eine Sättigung in dem Geschäftsfeld ein: Die Wachstumskurve verläuft logarithmisch (siehe Abb. 2).
Irgendwann ist weiteres Wachstum nicht mehr möglich: Der Markt ist insgesamt gesättigt und zwischen den Wettbewerbern aufgeteilt. Diese Aufteilung kann sich natürlich prinzipiell verschieben. Das passiert meist aber nur langsam. Und spätestens wenn ein Unternehmen ein Quasi-Monopol herausgebildet hat, stagniert das Wachstum. Auch wenn das Wachstum bereits stagniert, können Unternehmen über lange Zeit sehr profitabel arbeiten. Unternehmen wie mobile.de können im deutschen Gebrauchtfahrzeugmarkt kaum noch wachsen, fahren jedes Jahr aber beträchtliche Gewinne ein.
Damit klingt der Horizont 1 möglicherweise langweiliger, als er ist. Es wird dort nicht nur das Geschäft abgewickelt. Es finden auch Innovationen statt, und zwar immer mit dem Ziel, die existierenden Kundenbedürfnisse mit den existierenden Produkten und Services besser zu erfüllen. Viele der Innovationen in Horizont 1 haben mit Effizienzoptimierung und Qualitätssteigerung zu tun.
Wenn das Unternehmen wachsen will, müssen über den Horizont 1 hinausgehende Innovationen her. In Horizont 2 werden die Produkte oder Geschäftsbereiche entwickelt, die später den existierenden Horizont 1 deutlich erweitern oder gar ersetzen sollen. In der Softwareentwicklung erstreckt sich dieser Horizont meist 12 bis 24 Monate in die Zukunft. Im Idealfall beginnt man also mit der Entwicklung eines neuen Produktes in Horizont 2 ein bis zwei Jahre, bevor das aktuelle Wachstum stagniert. Dann ist ein nahtloses weiteres Wachstum möglich.
Die Entwicklungen in Horizont 2 finden nicht auf gut Glück statt. Sie basieren auf validierten Geschäftsmodellen und vorher gesicherten Optionen. Und genau das findet in Horizont 3 statt (in der Softwareentwicklung meist 18 bis 36 Monate in der Zukunft). Hier werden viele Ideen mit jeweils wenig Aufwand parallel bearbeitet. Es geht darum, mit wenig Aufwand und Kosten viele Optionen für die Zukunft zu sichern.
Ein Ölförderer sichert sich in Horizont 3 z.B. Bohrrechte in einer bestimmten Region und entscheidet später, ob er das Feld überhaupt erschließt. Mitunter staunen wir über Firmenkäufe, weil wir den Bezug zum Geschäft des Käufers nicht erkennen. Beispiele dafür sind der Kauf von Skype durch eBay oder der Kauf von Boston Dynamics (Militärroboter) durch Google sowie der Verkauf von Skype durch eBay später an Microsoft. Als Horizont-3-Aktionen ergeben solche Firmenkäufe aber durchaus Sinn. Man sichert sich Optionen für zukünftiges Geschäft, das eben nicht in Horizont 1 liegt. Später entscheidet man, ob man die Option in den Horizont 2 zieht und das Geschäft wirklich entwickelt. Die meisten Optionen wird man nicht realisieren. Dann kann man noch versuchen, diese durch Verkauf zu Geld zu machen. Wenn ein so getriebener Kauf und Verkauf von Unternehmen mitunter mit Verlust erfolgt, ist das hier tatsächlich nachrangig.
Herausforderungen bei der Umsetzung des 3-Horizonte-Modells
Die meisten Unternehmen haben Defizite bei der Umsetzung des 3-Horizonte-Modells. Sie fokussieren zu sehr auf das aktuelle Geschäft in Horizont 1 und kümmern sich zu wenig um die Horizonte 2 und 3. (Es ist natürlich vollkommen richtig, die wesentlichen Kapazitäten auf das aktuelle Geschäft zu richten. Denn dort schaffen die Unternehmen ja zurzeit Wert für Kunden.)
Die Investitionen in die Horizonte 2 und 3 sind nur eine der Herausforderungen. Den meisten Unternehmen ist bewusst, dass sie investieren müssen, und sie sind dazu auch bereit und fähig. Viel problematischer sind meist die Übergänge zwischen den Horizonten. So schaffen Unternehmen vielleicht viele Optionen in Horizont 3, haben aber keinen geeigneten Prozess zur Auswahl der Optionen, die in Horizont 2 realisiert werden. Sie haben vielleicht keine geeigneten Bewertungskriterien für die Optionen oder scheuen die vergleichsweise großen Investitionen, die mit Entwicklungen in Horizont 2 einhergehen.
Dabei spielt auch Widerstand aus Horizont 1 eine wichtige Rolle. Die in Horizont 1 tätigen Manager wollen dort verdientes Geld meist lieber in Horizont 1 investieren. Ihre Argumentation ist aus finanzieller Sicht vollkommen plausibel: „Warum sollen wir 10 Mio. Euro in die Entwicklung eines Produktes investieren, von dem wir nicht sicher wissen, ob es erfolgreich sein wird? Lasst uns doch lieber die 10 Mio. Euro in besseres Marketing und mehr Vertrieb investieren. Das erhöht unsere Umsätze ziemlich sicher um 50 Mio. Euro.“ Dieser Argumentation regelmäßig zu folgen, bedeutet allerdings das langfristige Wachstum den kurz- bis mittelfristigen Umsätzen zu opfern.
Ein verwandtes Problem betrifft die Kannibalisierung des eigenen Geschäfts. Mitunter ist es sinnvoll, in Horizont 2 ein Produkt zu entwickeln, das existierende Produkte in Horizont 1 gefährdet. Als Apple das erste iPhone entwickelte, wusste man, dass man damit vermutlich den iPod-Markt zerstört oder stark beschädigt. Natürlich ist es besser, man kannibalisiert seinen eigenen Markt selbst, als dass es jemand anderes tut. Wenn man als Vertriebschef allerdings für die iPod-Verkäufe verantwortlich ist und vielleicht noch der eigene Bonus an Umsatzziele gekoppelt ist, hat man wenig Anreiz, so langfristig unternehmerisch zu denken.
Möglicherweise gäbe es heute kein Apple iPhone auf dem Markt, wenn nicht Steve Jobs selbst die iPhone-Entwicklung im Unternehmen vertreten hätte. Mit seinen breiten CEO-Schultern konnte er die Entwicklung in Horizont 2 und die Überführung in Horizont 1 sicherstellen.
Das 3-Horizonte-Modell und agile Entwicklung
Die Ursprünge von Scrum stammen aus Horizont-2-Entwicklungen (siehe [Takeuchi & Nonaka 1986]). Inzwischen ist Scrum und generell agile Entwicklung aber auch erfolgreich in den Horizonten 1 und 3 verwendet worden – in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen. Insbesondere die Verwendung agiler Entwicklung in Horizont 1 mag in der Theorie unnötig erscheinen. Das Unternehmen ist ja bereits erfolgreich in seinem Geschäftsbereich unterwegs. Es kennt seine Zielgruppen, deren Bedürfnisse und hat offensichtlich Produkte und Services, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Lesetipp: In einem eigenen UPLOAD-Beitrag bekommen Sie eine Übersicht dazu, was es mit agilen Unternehmen auf sich hat. Außerdem erfahren Sie, wie jedes Unternehmen die ersten Schritte in die Agilität gehen kann. Nicht zuletzt erklärt ein Artikel, warum Selbstorganisation à la Scrum eine gute Idee sein kann.
Größere Marktdynamik
Nun hat sich allerdings in den letzten Jahren insgesamt die Marktdynamik deutlich erhöht, sodass in vielen Branchen auch in Horizont 1 adaptive Vorgehensweisen notwendig sind.
Zum Beispiel ist die Europäische Kommission ständig auf der Suche nach Marktineffizienzen und versucht im Sinne der Bürger, Monopole aufzulösen und durch Deregulierung Marktzugänge zu schaffen. Im Energiesektor waren in Deutschland lange Zeit vier große Unternehmen marktbeherrschend unterwegs und konnten über ihre Strompreise Milliardengewinne erzielen. Der Gesetzgeber löste vor Jahren die Bindung an den örtlichen Lieferanten und damit die räumlichen Monopole auf. Heute kann jeder Kunde im Internet über Preisvergleichsportale zwischen vielen Stromanbietern wählen und auch Kriterien wie räumliche Nähe oder Grad der CO2-Erzeugung in seine Entscheidung einfließen lassen. Für die großen Energiekonzerne entstand eine erhebliche zusätzliche Dynamik, als nach der Fukushima-Katastrophe entschieden wurde, in Deutschland sehr schnell aus der Atomenergie auszusteigen.
Auch im Bereich Telekommunikation interveniert die EU. Die Endkundenpreise sind in der EU inzwischen nach oben gedeckelt und auch teure Nischen wie Roaminggebühren werden gerade ausgetrocknet. Die praktisch über Nacht zufällig als Erfolgsprodukt entdeckte SMS wurde vor Kurzem durch Internetdienste wie zum Beispiel WhatsApp bei den meisten Nutzern abgelöst. Die Telekommunikationsunternehmen sind sehr rege auf der Suche nach neuen Produkten und Geschäftsmodellen.
Wenn man sich den Markt für Handys anschaut, gab es um die Jahrhundertwende einen Platzhirsch: Nokia. Zu dem Zeitpunkt war dieser Markt – verglichen z.B. mit dem Automobilmarkt – noch sehr jung. Damals haben die meisten Menschen auf die Frage, wohin die Entwicklung geht, gesagt: Die Handys werden immer kleiner. Dass sie ausgestattet mit einem Touchscreen auch mal wieder größer werden würden, hat das Management bei Nokia wohl nicht erwartet. Heute sind Nokia-Handys ein Nischenprodukt.
Die Verknüpfung der Telekommunikation mit einem tragbaren Gerät mit Touchscreen hat wiederum neue Märkte eröffnet: App Stores. Und auch diese Märkte neigten zeitweise zu Übertreibungen und sind sehr dynamisch.
Preisvergleichsportale decken praktisch alle Produkte und Dienstleistungen für Endanwender ab. Diese Transparenz erhöht ebenfalls die Marktdynamik. Der Kunde ist unter Umständen informierter als der Fachhändler.
Fallbeispiel: DVDs (von Jürgen Hoffmann)
Ich erinnere mich noch gut, als ein Freund von mir seinen ersten DVD-Spieler direkt aus den USA bekam. Er packte das Gerät aus und lötete am selben Abend noch den Baustein für den Ländercode aus und baute ihn so um, dass er per Fernbedienung einen Ländercode wählen konnte. Im deutschen Fachhandel hatte man zu dem Zeitpunkt gerade Zugang zu einer Handvoll DVDs mit Ländercode 2 für Europa. Mein Freund, der Kunde, erklärte dem Fachhändler, was es damals gerade an Neuerscheinungen gab und hatte zu Hause eine größere Sammlung, als der Händler in sein Regal stellen konnte. Die entsprechenden Informationen waren dem interessierten Publikum im Internet zugänglich.
Zeithorizonte
Die oben angegebenen Zeitspannen für die Horizonte 2 und 3 mögen sehr lang erscheinen. Schließlich arbeiten wir doch längst agil und können viel schneller reagieren. Theoretisch wäre dem so, aber selbst in den meisten jüngeren Internetunternehmen sieht die Praxis deutlich anders aus. Entscheidungen müssen durch viele Bereiche und Hierarchieebenen wandern, bis man tatsächlich beschließt, ein neues Produkt in Horizont 2 zu entwickeln. Hier macht sich negativ bemerkbar, dass Agilität in den meisten Unternehmen nach wie vor auf die Entwicklung beschränkt ist, während der Rest des Unternehmens bei seinen alten Strukturen geblieben ist.
Teil 2: Organisation für das 3-Horizonte-Modell
Damit das 3-Horizonte-Modell gut funktioniert, müssen bestimmte organisatorische Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst muss in jedem Horizont ausreichend Freiraum gesichert werden, sodass Innovation stattfinden kann. Außerdem müssen die Übergänge zwischen den Horizonten passend gestaltet werden. Es nützt schließlich wenig, wenn man in Horizont 3 ganz viele Optionen sichert, diese aber nie realisiert.
Freiraum in Horizont 1
In Horizont 1 findet wie bereits beschrieben das aktuelle Geschäft statt. Natürlich hat das viel mit „Execution“ zu tun. Dabei sollte man nicht vergessen, dass auch hier Innovation notwendig ist. Existierende Produkte und Services müssen kontinuierlich weiterentwickelt und optimiert werden, z.B. bzgl. ihrer Qualität, aber auch hinsichtlich der Kosteneffizienz. Prinzipiell sind Innovationen in den drei Bereichen Kundenbedürfnisse, Business-Modell und Technologie sinnvoll (siehe Abb. 3). Kundenbedürfnisse werden auch in Horizont 1 noch besser verstanden, vor allem aber werden sie umfangreicher oder tiefgreifender adressiert. Das Business-Modell wird optimiert. Vielleicht wird dazu eine Internetplattform, die bisher rein werbefinanziert war, um ein Abo-Modell erweitert. Und nicht zuletzt können Innovationen bei der Technologie (Umsetzung im weitesten Sinne) stattfinden. Vielleicht werden bisher manuell erbrachte Dienste automatisiert (Beispiel: Geldauszahlungen finden nicht mehr am Schalter statt, sondern am Geldautomaten).
Diese Innovationen benötigen Freiraum. Bei einer 100%igen-Auslastung aller Beteiligten können kaum innovative Ideen entstehen, geschweige denn umgesetzt werden.
Bei einer 100%igen-Auslastung aller Beteiligten können kaum innovative Ideen entstehen, geschweige denn umgesetzt werden.
Es gibt vielfältige Modelle, wie dieser Freiraum geschaffen werden kann. Die Firma 3M ist bekannt dafür, dass sie viele neue Produktideen entwickelt hat. Dort hat jeder Ingenieur 15% seiner Arbeitszeit zur freien Verfügung (sogenannte Slack-Time), um an eigenen Projekten zu arbeiten, die nicht weiter genehmigt werden müssen [Sawyer 2008]. Google verfolgt(e) ein ähnliches Modell. Es scheint aber nicht mehr oder nicht mehr durchgängig praktiziert zu werden. Viele Firmen arbeiten mit Hackathons (manchmal auch Fedex-Days), bei denen für ein bis fünf Tage viele Menschen zusammenkommen und gemeinsam Dinge ausprobieren. Eine dritte Variante sind Gold Cards [Higman et al. 2001]: Jeder Entwickler bekommt z.B. für ein Jahr eine Menge an Gold Cards. Diese kann er benutzen, um sich Slack-Tage „zu erkaufen“.
Fallbeispiel: Slack-Time (von Stefan Roock)
Bei einem Internetunternehmen wurde ein Slack-Time-Modell eingeführt. Jeder Entwickler hatte eine bestimmte Menge von freien Tagen, um sich mit neuen Dingen zu beschäftigen (wir haben hier Gold Cards verwendet). Die Entwickler haben sich in ihrer Slack-Time vor allem mit neuen Technologien beschäftigt. Die beiden Bereiche Kundenbedürfnisse und Business-Modell aus Abbildung 3 wurden gar nicht berücksichtigt.
Das war nicht im Sinne des Unternehmens, aber absolut nachvollziehbar. Die Entwickler hatten in ihrem Arbeitsalltag primär mit technischen Problemen zu tun (um den Kundenkontakt und die geschäftlichen Bedürfnisse haben sich in erster Linie die Product Owner gekümmert). Folgerichtig haben sie sich auch in der Slack-Time mit diesen Problemen beschäftigt.
Wenn das Unternehmen möchte, dass auch Fragestellungen aus den Bereichen Kundenbedürfnisse und Business-Modell bearbeitet werden, muss man eine größere Nähe zu den Kunden und zum Business schaffen. Zunächst sollten also Mitarbeiter aus dem Business mit in das Modell integriert werden (Product Owner, Sales, Marketing etc.). Zum anderen muss man die Entwickler näher an die Kunden bringen. Man könnte dazu z.B. die Regel etablieren, dass Slack-Time nicht im eigenen Büro, sondern nur beim Kunden verbracht werden darf. Dann erhöht sich die Chance, dass die Entwickler kundenrelevante Probleme erkennen und nachvollziehen können, und dann werden sie ihre Slack-Time auch in diese Art von Fragestellungen investieren.
Freiraum in Horizont 2
In Horizont 2 muss Freiraum anders behandelt werden. Im Grunde ist ja der ganze Horizont 2 Freiraum. Es geht um nichts anderes als die Entwicklung eines innovativen Produktes oder Service. Idealerweise weist das Team dazu die folgenden Eigenschaften auf:
- Alle Teammitglieder sind exklusiv und Vollzeit in ihrem Team.
- Alle Teammitglieder arbeiten am selben Ort (Co-Location), der isoliert ist von den Räumlichkeiten für Horizont 1.
- Alle Teammitglieder sind nur ihrem Projekt in Horizont 2 verantwortlich und keinen anderen Vorgesetzten. (Die Teammitglieder können dazu z.B. während der Projektlaufzeit dem Projektmanager oder Product Owner disziplinarisch unterstellt werden.) Die Teammitglieder sind damit auch nur den „Regeln“ des Projektes unterworfen und von allen weiteren Vorgaben des Unternehmens befreit.
Dieses Szenario mag einigen Lesern vielleicht utopisch erscheinen. Es gibt allerdings alteingesessene hierarchische Konzerne, die schon immer eine solche Projektkultur gelebt haben. Es ist also durchaus möglich – auch dann, wenn das eigene Unternehmen groß und vermeintlich bürokratisch ist.
Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind und die Führung des Projektes das Projekt angemessen leitet, ist der notwendige Freiraum per se gegeben. [Nonaka & Takeuchi 1995] Unternehmen mit der oben beschriebenen Projektkultur bieten übrigens ideale Voraussetzungen für agile Entwicklung. Es gibt kaum Unternehmenseinflüsse und Hindernisse, die nicht lokal im Projekt gehandhabt werden können.
Freiraum in Horizont 3
In Horizont 3 wollen wir in kurzer Zeit mit wenig Aufwand möglichst viele Optionen schaffen. Dabei muss man sicherstellen, dass dies mit wenig Verwaltungsoverhead einhergeht. In einem zwölfköpfigen Gremium darüber zu entscheiden, ob fünf Tage in die Validierung einer Idee investiert werden soll, ist nicht effizient.
Eigene Abteilungen oder Teams dafür zu haben, ist dauerhaft auch nicht produktiv. Es entsteht zu schnell ein Elfenbeinturm im Unternehmen. [Nonaka & Takeuchi 1995] weisen darauf hin, wie wichtig Mitarbeiterrotation zwischen den verschiedenen Horizonten ist. Die Autoren unterscheiden dabei nur zwischen „Geschäftssystem“ (Horizont 1) und „Innovationssystem“ (Horizonte 2 und 3).
Damit in Horizont 3 sinnvoll der Samen für neue Geschäftsbereiche gesät werden kann, ist ein direkter Kontakt zum Markt essenziell. Daher ist es durchaus naheliegend, Horizont-3-Ideen aus dem Horizont 1 heraus zu generieren. In Horizont 1 haben die Beteiligten (hoffentlich) täglich direkten Kundenkontakt. Darüber können sie bisher nicht oder unzureichend adressierte Bedürfnisse erkennen.
Daher ist es eine naheliegende Idee, prinzipiell jedem Mitarbeiter die Möglichkeit zu geben, in Horizont 3 zu arbeiten. Die Zeit dafür kann über dieselben Slack-Modelle organisiert werden, die wir in Horizont 1 bereits gesehen haben: 15%-Modell, Gold Cards, Hackathons.
Das 15%-Modell und der Gold-Card-Ansatz alleine können bei etwas größerem Validierungsaufwand dazu führen, dass die Validierung einer Idee sehr lange dauert (weil dann z.B. 20 Tage auf mehrere Monate verteilt werden müssen). Eine Alternative sind Stufenmodelle: Jeder Mitarbeiter bekommt die Chance, ohne weitere Anträge pro Jahr fünf Tage seiner Arbeitszeit und 1.000 Euro in die Validierung einer Idee zu investieren; Mitarbeiter können sich auch zusammentun und damit ihre Kapazitäten bündeln. Mit dem Ergebnis ihrer Validierung können Mitarbeiter sich dann an ein Gremium wenden und das nächstgrößere Paket beantragen (z.B. 20 Tage und 10.000 Euro). So würde mit wachsendem Vertrauen in eine Idee angemessen viel Aufwand und Geld investiert werden.
Übergang von Horizont 3 nach Horizont 2
Beim Übergang von Horizont 3 nach Horizont 2 stehen meist relevante Investitionsentscheidungen an. Das Unternehmen muss entscheiden, wie viel es in welche der generierten Optionen investieren will.
Unternehmen fällen ständig Investitionsentscheidungen. Daher sollte es ihnen beim Übergang von Horizont 3 zu Horizont 2 auch nicht so furchtbar schwerfallen. Das Gegenteil ist aber häufig der Fall. Viele Unternehmen tun sich viel leichter mit Investitionsentscheidungen in Horizont 1. Dort befindet man sich in einem Gebiet, in dem man sich gut auskennt und Risiken leichter abschätzen und handhaben lassen.
Eine Investition in Horizont 2 ist von viel größerer Unsicherheit begleitet. Es könnte sein, dass man Millionen investiert und das Geschäft dann doch nicht so zündet, wie man es erhofft hatte. Wir versuchen durch die Validierungen in Horizont 3 die größten Unbekannten zu beseitigen. Ein „No-Brainer“ wird die Investition dadurch aber auch nicht.
Neben der Frage nach Kosten und erwartetem Nutzen (ROI, Return on Investment) ist hier ganz wesentlich, ob das Unternehmen den anstehenden neuen Geschäftsbereich überhaupt möchte. Passt er zum generellen Unternehmenszweck? Entwickelt sich dadurch ein neuer Geschäftsbereich, der an existierende angrenzt, oder ist der Geschäftsbereich komplett neu für das Unternehmen? Unter Umständen könnte der potenzielle neue Geschäftsbereich auch existierendes Geschäft in Horizont 1 gefährden.
Ansoff-Matrix
Bei der Betrachtung dieser Frage hilft die Ansoff-Matrix [Ansoff 1957] (siehe Abb. 4). Sie unterscheidet auf der X-Achse zwischen existierenden und neuen Produkten und auf der Y-Achse zwischen existierendem und neuem Markt.
- Investiert man in existierende Produkte in einem für das Unternehmen existierenden Markt, fokussiert man auf Marktpenetration: Mehr Kunden sollen das Produkt benutzen. Die Investitionen konzentrieren sich meist auf Marketing und Vertrieb.
- Entwickelt man ein neues Produkt für einen existierenden Markt, spricht man von Produktentwicklung. Die Investitionen konzentrieren sich folgerichtig auf die Entwicklung.
- Um Marktentwicklung geht es, wenn ein existierendes Produkt in einen neuen Markt eingeführt wird. Das passiert häufig, indem ein z.B. in Deutschland erfolgreiches Produkt auch in europäischen Nachbarländern angeboten wird. Es ist aber auch möglich, ein existierendes Produkt durch Neupositionierung (und kosmetische Änderungen am Produkt) für eine neue Zielgruppe zu positionieren (z.B. Damen-Rasierer). Auch hier wird man konzentriert in Marketing und Vertrieb investieren.
- Und schließlich kann man ein neues Produkt für einen neuen Markt entwickeln. Dann spricht man von Diversifizierung (des eigenen Angebots). Jetzt sind Investitionen sowohl in Entwicklung wie auch in Marketing und Vertrieb notwendig.
Für langfristiges Wachstum dürfte es in den meisten Fällen angemessen sein, alle vier Quadranten der Ansoff-Matrix zu besetzen.
Wenn man die Ansoff-Matrix zum 3-Horizonte-Modell in Beziehung setzt, ist offensichtlich, dass Marktpenetration in Horizont 1 stattfindet und Diversifizierung in Horizont 2 und 3. Marktentwicklung wird meist in Horizont 2 verortet sein. Produktentwicklung kann je nach Anspruch der Entwicklung in Horizont 1 oder 2 stattfinden. Entwickelt ein Staubsaugerhersteller schlicht das nächste Modell einer erfolgreichen Staubsaugerreihe, wird diese Entwicklung in Horizont 1 erfolgen. Das neue Staubsaugermodell wird schließlich nicht zur Erschließung neuer Geschäftsfelder führen. Als Matsushita den ersten Heimbrotbackautomaten entwickelte [Nonaka & Takeuchi 1995], adressierte man damit die existierenden Kunden (an die man bereits andere Küchenkleingeräte verkaufte). Matsushita hatte jedoch vor, durch dieses neue Produkt ein neues Geschäftsfeld zu erschließen (und war damit auch erfolgreich). Diese Entwicklung fand also in Horizont 2 statt.
Übergang von Horizont 2 nach Horizont 1
Beim Übergang von Horizont 2 nach Horizont 1 ist die Entwicklung zumindest so weit abgeschlossen, dass eine breite Markteinführung möglich ist. Es müssen also spätestens jetzt Marketing und Vertrieb berücksichtigt werden.
Manchmal können existierende Marketing- und Vertriebsstrukturen auch für das entwickelte Produkt verwendet werden. Im oben genannten Beispiel des Heimbrotbackautomaten von Matsushita war dies der Fall. Die Kunden konnten über die existierenden Marketingkanäle angesprochen werden und die existierenden Vertriebsstrukturen für die existierenden Küchenkleingeräte waren auch für Heimbrotbackautomaten geeignet.
Der Übergang von der Entwicklung zum Marketing und Vertrieb ist aber nicht immer ganz so einfach. Ein berühmtes Beispiel ist Kodak, die bereits 1975 eine erste Digitalkamera entwickelt hatten. 1989 war die Entwicklung so weit ausgereift, dass Kodak eine alltagstaugliche Digitalkamera hatte. Das Marketing war allerdings nicht bereit, die Kamera zu bewerben. Man befürchtete, das sehr gut laufende Geschäft mit Filmen und Fotopapier zu beschädigen.
Ein anderes Beispiel können Neuwagenkäufer im Autohaus ihres Vertrauens bewundern. Die meisten Autohersteller haben mindestens ein Elektroauto im Programm. In der Ausstellung der Verkäufer sucht man danach aber meist vergebens. Es scheint für die Autohäuser attraktiver zu sein, Autos mit Verbrennungsmotoren zu verkaufen. Vermutlich sind die Margen dort größer.
Bei anderen Produkten ist klar ersichtlich, dass existierende Marketing- und Vertriebsstrukturen nicht wiederverwendet werden können. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Produkt für einen neuen Markt entwickelt wird. Ein Beispiel dafür ist die für ihre Staubsauger bekannte Firma Dyson, die im Herbst 2017 ankündigte, ein Elektroauto bauen zu wollen. Es ist offensichtlich, dass Autos anders vermarket werden müssen und andere Vertriebsstrukturen brauchen als Staubsauger. Hier müssen also Marketing und Vertrieb für das neue Produkt komplett neu aufgebaut werden.
Das zeigt ganz eindringlich, dass der Übergang von Horizont 2 zu 1 nicht von selbst geschieht, wenn die Entwicklung abgeschlossen ist. Es ist ein gehöriges Stück Arbeit notwendig, in der Regel direkt vom Topmanagement, damit ein tolles Produkt auch den Erfolg am Markt haben kann, der ihm zusteht.
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Personalstrategien der Horizonte
Jeder Horizont braucht seine eigene Personalstrategie. Das betrifft die Skills und Persönlichkeitstypen der Teammitglieder sowie die zeitliche Teamzuordnung.
In Horizont 1 ist Stetigkeit ein wichtiges Qualitätskriterium. Die hohe Qualität der existierenden Produkte und Services darf nicht durch Innovationen gefährdet werden. Man kann der eigenen Marke schaden, wenn man die existierenden Produkte und Services zu radikal ändert. Ein Team, das nur aus kreativen Köpfen besteht, wird Schwierigkeiten haben, die notwendige Stetigkeit sicherzustellen.
Um die gleichbleibende Zuverlässigkeit der Produkte und Services sowie die dafür notwendige Verlässlichkeit innerhalb des Teams herzustellen, sollten die Teammitglieder den Großteil ihrer Zeit in das Team investieren.
In Horizont 2 soll ein neues innovatives Produkt entwickelt werden. Dieses bricht möglicherweise mit existierenden Vorstellungen, Geschäftsmodellen etc. Das Team muss also den dafür notwendigen Mut und die dafür notwendige Kreativität mitbringen.
Außerdem muss das Team sich voll und ganz auf das neue Produkt konzentrieren und muss ausreichend vom Rest des Unternehmens isoliert sein; sonst bekommt das Team den Kopf nicht so frei, dass es Dinge neu denken kann. Idealerweise sind alle Teammitglieder Vollzeit im Team und arbeiten am selben Ort auf einer eigenen Projektfläche.
Es ist meist allerdings keine gute Idee, wenn Mitarbeiter ausschließlich in Horizont 2 arbeiten. Es entsteht dann allzu leicht ein Elfenbeinturm im Unternehmen. Stattdessen sollten Mitarbeiter aus Horizont 1 temporär in Horizont 2 und wieder zurück rotiert werden. Die Rückrotation kann auch dadurch stattfinden, dass die Mitarbeiter zusammen mit dem Produkt in Horizont 1 übergehen. Sie sind dann für den Betrieb, Service und die Weiterentwicklung in Horizont 1 verantwortlich – meist ergänzt durch zusätzliche Kollegen.
Die ersten Schritte einer neuen Idee in Horizont 3 benötigen in der Regel kein dediziertes Team. Sie können durch „Stippvisiten“ in Horizont 3 erfolgen. Eine Möglichkeit dazu ist ein 20%-Modell, wie es bei Google bis vor wenigen Jahren üblich war, bei dem Mitarbeiter 20% ihrer Wochenarbeitszeit in Horizont-3-Ideen investieren dürfen – ohne große Genehmigungen. Eine andere Variante sind Hackathons (alias Fedex-Days, Inno-Days etc.), bei denen sich eine größere Menge von Menschen für ein bis drei Tage einschließt, um verschiedenste Ideen auszuprobieren.
Auf diesem Wege können neue Ideen quasi nebenbei entwickelt und validiert werden. Wenn so z.B. erste Prototypen entwickelt und mit einzelnen Kunden getestet wurden, kann ggf. ein temporäres Team mit kurzer Laufzeit aufgesetzt werden, das weitere Validierungen z.B. bezüglich des Business-Modells durchführt.
In Horizont 3 sind ein flexibles Rollenverständnis, vielfältige Fähigkeiten, Offenheit gegenüber Überraschungen, Empathie für Kundenbedürfnisse, Querdenken und Diversität noch wichtiger als in den anderen Horizonten. Wenn Teams für ein Horizont-3-Projekt zusammengestellt werden, sollte darauf geachtet werden. Der klassische Nerd, der nicht mit Kunden sprechen will, ist in dem Team ähnlich deplatziert wie ein High-Level-Konzepter, der an der Umsetzung nicht teilnehmen will.
Als Richtlinie kann folgendes Modell dienen:
- Teammitglieder in Horizont 1 sind exklusiv ihrem Team zugeordnet und erbringen 10–20% ihrer Arbeitszeit für Horizont-3-Ideen.
- Teammitglieder in Horizont 2 sind ihrem Team vollständig zugeordnet und arbeiten während der Horizont-2-Entwicklung gar nicht in Horizont 1 oder 3.
Entwicklung in den drei Horizonten
Als Beispiel betrachten wir hier einen Versicherungskonzern, der mit seinen Mitarbeitern Versicherungsprodukte entwickelt. Es geht hier nicht zentral um ein Softwaresystem zur Verwaltung und Organisation von Verträgen und Kundendaten – sondern um die Versicherungsangebote an die Kunden.
In Horizont 1 hat so ein Unternehmen vielleicht klassische Lebensversicherungen und Rentenversicherungen, die zum Teil vor Jahrzehnten abgeschlossen wurden. Die Rahmenbedingungen sind klar, der Geldfluss vorhersagbar und die Mitarbeiter im Unternehmen kümmern sich im Wesentlichen darum, möglichst effizient diese Verträge zu verwalten. Die meisten Unternehmen sind darin ganz gut – diese Arbeiten wurden jahrelang eingeübt und die Prozesse sind allen bekannt.
In Horizont 2 ist die Situation komplex – niemand kann eine stabile Vorhersage machen, weil es zu den gerade entstehenden Produkten keine historischen Daten zu Umsatz und Kundenzufriedenheit gibt. Hier bewährt sich die Stärke eines echten Scrum-Teams. Weil alle Teammitglieder exklusiv und Vollzeit im Team sind, am selben Ort im selben Raum zusammen arbeiten und nur ihrem Projekt verantwortlich sind, kommt es zu einer schnellen, effektiven Lösungsfindung jenseits der ausgetretenen Wege. Zudem haben die Teammitglieder idealerweise aufgrund verschiedener Ausbildungen (wie z.B. Versicherungsmathematikerin, Marketingexperte, Vertriebsexpertin, Versicherungskaufmann, Rechtsanwalt, Sachverständiger, Gutachter, Versicherungsfachwirtin, Softwareentwickler, Grafikdesigner) und Persönlichkeiten unterschiedliche Sichtweisen auf das neue Produkt. Schauen wir uns das einmal an einem Fallbeispiel aus der Sicht des Kunden an.
Fallbeispiel: Pflegeversicherung (von Jürgen Hoffmann)
Vor einiger Zeit hat meine Frau sich für eine neuartige Pflegeversicherung interessiert. Nach einer Recherche forderte sie von verschiedenen Unternehmen Angebote an.
Eine Versicherung schickte ein 40-seitiges Dokument mit sehr kleingedrucktem Text – dieses Produkt war aus Sicht der Versicherung formuliert. Eine andere Firma schickte ein optisch ansprechendes DIN-A4-Blatt, auf dem stand in wenigen Sätzen: Wir sind die xyz Versicherung. Das ist die Leistung. Das sind die Kosten. Bitte unterschreiben Sie hier. Dieses Produkt war vom Kunden her gedacht. Klar und verständlich. Meine Frau hat ohne zu zögern sofort das DIN-A4-Formular unterschrieben und zurückgesandt. Die 40 Seiten des Konkurrenzangebots zu lesen war ihr die Lebenszeit nicht wert.
Das kompliziertere Angebot war vielleicht sogar finanziell günstiger, aber es war aus dem Versicherungsunternehmen heraus gedacht: Wir wollen alle Eventualitäten detailliert regeln und trauen unserem Kunden nicht über den Weg – so wie wir das schon immer gemacht haben.
Das aufgrund seiner Schlichtheit attraktivere Angebot war vom Kunden her konzipiert: Für den Kunden einfach, klar und verständlich formuliert – gefühlt ohne Fußangeln im Kleingedruckten –, obwohl es auch hier eine Handvoll Seiten mit Versicherungsbedingungen gab. Ein typisches Produkt, wie es ein Scrum-Team mit Kundenfokus bauen würde. Das Team hat sehr viel Energie hineingesteckt, um die Schlichtheit der Oberfläche der Google-Suche in einem Versicherungsprodukt zu spiegeln. Vielleicht war das sogar die Vision, mit der das Team gestartet ist.
In Horizont 3 kommt es darauf an, möglichst viele Optionen für die Zukunft zu erzeugen. Hier darf der Fantasie freien Lauf gelassen werden. Welche Risiken erleben die Menschen – was können wir tun, um die finanziellen Folgen dieser Risiken abzufedern? Jeder Mitarbeiter im Unternehmen ist aufgerufen, darüber nachzudenken.
Wir haben in diesem Kapitel über Freiraum gesprochen – der ist hier besonders gefordert. Ein Mitarbeiter in Horizont 1, der im Wesentlichen an seiner Effizienz gemessen wird, fokussiert sich nur auf das tägliche Geschäft mit dem, was schon da ist. Genauso wie ein Mitarbeiter in einem Scrum-Team seinen Fokus auf das eine Produkt legt.
Um die Frage nach Risiken der Menschen zu beantworten, hilft es, in den Dialog mit verschiedensten Menschen zu treten. Was beschäftigt diese Menschen? Wovor haben sie Angst? Was sind echte Schicksalsschläge? Aus diesem Dialog entstehen Ideen für neue Produkte.
Genauso gut können aber auch Ideen entstehen, die nicht am traditionellen Geschäftsmodell einer Versicherung angelehnt sind. So baut z.B. die Deutsche Post in ihrer 100%-Tochterfirma Streetscooter Elektrolieferfahrzeuge für den eigenen Bedarf und für Dritte. Ursprünglich ging es nur darum, ein Problem des Konzerns beim Ausliefern von Paketen zu lösen. Jetzt ist daraus für traditionelle Automobilkonzerne ein leistungsfähiger Konkurrent entstanden.
Produkt-Roadmaps in den drei Horizonten
Die Idee einer Produkt-Roadmap ist eine visuelle Darstellung des Zusammenspiels von Vision und Zielrichtung des Produktes im Markt. Darin offenbaren sich die Strategie und auch der Plan, mit dem die Strategie umgesetzt wird. Eine gute Produkt-Roadmap hilft bei der Kommunikation des „Was?“ und „Warum?“. Es ist eine häufige Praxis in Unternehmen, für jedes Produkt eine Roadmap zu definieren.
Welche Eigenschaften definieren die Produkt-Roadmaps in den drei Horizonten?
In Horizont 1 ist die Roadmap häufig über die Zeit sehr stabil. Sie umfasst Zeiträume von zum Beispiel 12, 18 oder mehr Monaten und wird unter Umständen in hochrangigen Managementkreisen jährlich beraten und beschlossen. Da die Veränderungsgeschwindigkeit des Geschäftsmodells in Horizont 1 eher niedrig ist, folgt auch ein geringer Anpassungsbedarf.
In Horizont 2 macht eine detailreiche Roadmap über 18 und mehr Monate keinen Sinn. Veränderungen am Geschäftsmodell, Kundengruppen und im Markt geschehen viel häufiger. Die Entscheidungsprozesse müssen der Geschwindigkeit folgen, mit der wir neue Erkenntnisse aus dem Markt gewinnen. Hier umfasst die Roadmap vielleicht einen Zeitraum von 3 Monaten in die Zukunft, der einigermaßen stabil ist. Teile der Roadmap, die zeitlich dahinter liegen, sind bewusst unscharf formuliert und detailarm gehalten, weil sie so volatil sind.
In dieser Situation raten wir dazu, die Entscheidungen in die Hände eines Product Owners zu legen, der sich eventuell regelmäßig mit hochrangigen Managementkreisen berät. Wenn wir einem solchen Produkt eine Roadmap und den jährlichen Beratungsprozess aus dem Horizont 1 aufzwingen, dann verpasst das Produkt viele Chancen und wir bauen inzwischen obsolete Features ein.
In Horizont 3 ist jede Roadmap wenige Momente nach ihrer Erstellung falsch. Wir können täglich an den Punkt kommen, aufgrund von aktuellen Lernmomenten das Produkt zu verwerfen und eine völlig neue, wertvollere Idee zu verfolgen.
Eine Roadmap könnte hier einen Wert haben, um Entscheidungsträger im Unternehmen für Potenziale unseres Produktes zu begeistern. In der Kommunikation muss aber sehr deutlich werden, dass mit der Roadmap in Horizont 3 nur ein möglicher Pfad in die Zukunft gezeichnet wird – und dass wir sicher sind, dass der echte Pfad rückblickend ein anderer sein wird. Insofern sollte nicht zu viel Energie auf Details verwendet werden. Die Roadmap ist hier ein Wegwerfprodukt mit extrem kurzer Lebensdauer.
In Bezug auf Entscheidungen ist in diesem Fall ein echter ermächtigter Product Owner unerlässlich. Der ultimative Test für den Product Owner wäre die Frage: „Kann ich entscheiden, die Produktentwicklung zu beenden und das Produkt aus dem Markt zu nehmen?“ – Wenn die Antwort „Ja!“ lautet, dann haben wir einen guten Product Owner. Sollte die Antwort „Nein!“ sein, dann müssen wir uns auf die Suche nach dem echten Product Owner machen, um ihm seine Verantwortung deutlich zu machen.
Produkt-Roadmap und Business-Plan
Produktentwicklung kann sehr aufregend und spannend sein. Auch für die Menschen, die die Finanzierung verantworten oder ihr eigenes Geld in die Entwicklung stecken. Insofern wünschen sich die Beteiligten immer etwas Sicherheit. Eine Produkt-Roadmap kann dazu dienen, ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Je nach Horizont ist diese Sicherheit unter Umständen so volatil, dass nur eine Illusion vermittelt wird. Wie kann man trotzdem eine Ableitung für einen Business-Plan oder einen Budgetplan versuchen?
Wenn das Marktumfeld sehr dynamisch oder noch undefiniert ist, weil wir den Markt mit unserem Produkt erst erzeugen werden, dann können andere Variablen fix gehalten werden. So kann der Produktverantwortliche z.B. für einen Zeitraum von 12 Monaten im Voraus festlegen, mit wie vielen Mitarbeitern er an dem Produkt arbeiten möchte. Das definiert einen großen Kostenanteil und ermöglicht es, eine darüber liegende Budgetobergrenze zu bestimmen, um das Risiko zu managen.
Dafür kann man naturgemäß in Horizont 3 dem Investor nicht eine exakte Liste mit Produkteigenschaften überreichen. Er geht in jedem Fall eine Wette mit seinem Geld ein.
In Horizont 1 ist das eher möglich – wegen der größeren Stabilität wird in vielen Fällen ein Großteil der Produkteigenschaften nach der vereinbarten Zeit vorliegen. Aber auch hier gibt es keine Garantie auf eine exakte Erfüllung einer detaillierten Liste. Unsere Welt ist komplex und wir müssen unsere Handlungen und Pläne ständig anpassen.
Literaturnachweise
- [Ansoff 1957] Ansoff, I.: Strategies for Diversification. 35(5), 1957, S. 113–124.
- [Baghai et al. 2000] Baghai, M.; Coley, S.; White, D.: The Alchemy of Growth. Basic Books, 2000.
- [Higman et al. 2001] Higman, J.; Mackinnon, T.; Moore, I.; Pierce, D.: Innovation and Sustainability with Gold Cards. 2001.
- [Sawyer 2008] Sawyer, K.: Group Genius: The Creative Power of Collaboration. Basic Books, 2008.
- [Takeuchi & Nonaka 1986] Takeuchi, H.; Nonaka, I.: The New New Product Development Game. Havard Business Review 1, 1986.
Über das Buch
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus „Agile Unternehmen“, erschienen im dpunkt-Verlag. Aus der Beschreibung:
Agile Entwicklung ist in vielen Bereichen längst zum Status quo geworden. Die agilen Prinzipien lassen sich jedoch vielfältiger anwenden, um Abteilungen, Unternehmensbereiche oder auch komplette Unternehmen agiler zu gestalten. Solche Unternehmen agieren flexibler am Markt, sind innovativer und bieten ihren Mitarbeitern sinnstiftendere Arbeitsplätze.
Menschen mit Verantwortung in Unternehmen stellen daher die große Frage: „Wie werden wir agiler?“
Dieses Buch fokussiert auf Schritte hin zu echter Agilität. Der Leser kann, wie mit einer Lupe, einzelne Organisationsbereiche und Situationen fokussieren und bekommt dazu Ideen und Handlungsanweisungen für den individuellen Weg zu mehr Agilität. Dabei werden viele Fallbeispiele aus der Praxis zur Illustration herangezogen.
Sie können den Titel als gedrucktes Buch oder E-Book direkt bei dpunkt kaufen. Außerdem finden Sie es u.a. bei Amazon*.
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Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 56
Es gibt Mittel und Wege, kreativ und innovativ zu bleiben, auch wenn viele andere Dinge dem entgegen stehen. Dabei helfen zum Beispiel Kreativmethoden, die wir in einem Artikel dieser Ausgabe vorstellen. Dabei hilft auch „Design Thinking“, das wir ebenfalls genauer erklären. Dabei hilft es, der eigenen Planung das „3-Horizonte-Modell“ zugrunde zu legen. Nicht zuletzt sehen wir uns in dieser Ausgabe an, wie ein 42 Jahre altes Unternehmen der Tech-Industrie jung und beweglich bleiben will.
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Dr. Jürgen Hoffmann hat seit 2003 Erfahrung mit agilen Methoden und Scrum. Nach der ersten großen Scrum-Einführung in Deutschland bei der WEB.DE AG hat er in den Rollen als Coach, Trainer, Product Owner, Scrum Master und Teammitglied in unterschiedlichen Branchen und Firmengrößen gearbeitet. Diese Erfahrung aus Branchen wie Automotive, Energie, Finanzen, IT & Internet mit Soft- und Hardwareentwicklung fließen in jeden Beratungsprozess ein. Heute arbeitet er als Geschäftsführer und Managementberater bei der Emendare GmbH & Co KG, die er 2013 mitgründete.
Dipl.-Inform. Stefan Roock ist Gründungsmitglied der it-agile GmbH. Ihm ist es in seiner Beratungstätigkeit wichtig, dass sich wirklich etwas ändert – hin zu erfolgreichen Unternehmen mit zufriedenen Mitarbeitern, die sich immer neuen Herausforderungen stellen. Er hat seit 1999 die Verbreitung agiler Ansätze in Deutschland maßgeblich mit beeinflusst. Zunächst hat er als Entwickler, später als Scrum Master und Product Owner in Scrum-Teams gearbeitet. Heute gibt er seine Erfahrung als Berater und Trainer weiter und hilft Unternehmen dabei, agiler zu werden.