Das Comeback des Indie Web

Das Indie Web als Gegenentwurf zu den monolithischen Angeboten wie Facebook oder LinkedIn hat zuletzt so etwas wie eine Renaissance erlebt – zumindest in Jan Tißlers persönlicher Filterblase. Das mag die Mehrheit der Internetnutzer weder ansprechen noch interessieren. Das muss es aber auch gar nicht, findet er. Jede Alternative ist gut, egal wie klein.

Das Internet, ca. 1997 (Illustration: © studiostoks, depositphotos.com)

The year was 1997 …

1997 war ich das erste Mal online. Schlanke 27 Jahre ist das nun her. Seitdem hat sich ein bisschen was getan. Wenn du damals noch nicht dabei warst, kannst du auf dieser Seite sehen, wie sich das in etwa angefühlt hat. Allerdings musst du dir zusätzlich vorstellen, dass du dich zuvor an deinen PC setzt, ihn einschaltest, wartest, dich mit dem Internet verbindest, dem Modem beim Verbindungsaufbau zuhörst und dich dann vom Meteorschauer im Netscape-Logo hypnotisieren lässt, während sich eine Website in gemächlichem Tempo auf deinem Bildschirm aufbaut.

Die hohen Kosten und langen Ladezeiten des alten Internet vermisse ich nicht. Die Kultur allerdings schon. Und wie es scheint, bin ich damit nicht allein.

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In den letzten Wochen hat es in meiner Filterblase einige Diskussionen rund ums „Indie Web“ gegeben. Verwandt sind Begriffe wie Whimsical Web oder das Cheap Web. Selbst brandneue Verzeichnisse für Blogs gibt es.

Dabei geht es oftmals um ein Internet, in dem nicht alles in Formate gepresst ist. Ein Web, das nicht durch einige wenige Anbieter und Angebote wie Google und Facebook bestimmt wird.

Das Web damals war ein weißes Blatt Papier. Das Web heute ist Malen nach Zahlen. Es ist leicht zu verstehen. Aber es ist strikt begrenzt, was möglich ist.

„Big Tech“ bestimmt im Wesentlichen, was ich tun kann, wer mich findet, wen ich finde, welche Posts ich sehe …

Algorithmen und der Verfall der Plattformen

Algorithmen sehe ich persönlich als einen der wesentlichen Gründe dafür an, dass weite Teile des Webs vor die Hunde gegangen sind. Algorithmen verstärken, was bereits Aufmerksamkeit bekommt. Aufmerksamkeit bekommt aber selten der tiefgehende, durchdachte, vorsichtige Post, der alle Seiten einer komplexen Diskussion darstellt. Manchmal passiert das. Aber doch sehr selten, wenn wir ehrlich sind.

Aufmerksamkeit bekommt vor allem, was Emotionen auslöst und in Sekunden zu verstehen ist.

Schon nähern sich alle Plattformen einander an. LinkedIn etwa war vor Jahren noch ein sehr strikt organisiertes Business-Netzwerk. Heute wirkt es mehr und mehr wie Facebook. Siehe dazu: Enshittification.

Diese Machtübernahme der abgeschotteten Plattformen funktioniert, da sich viele Internetnutzer nicht bewusst sind, wie sie manipuliert werden. Man scrollt und scrollt und scrollt und schon bald sind Stunden des eigenen Lebens unwiederbringlich verloren und man kann hinterher gar nicht so recht sagen, was man damit angestellt hat, was man gesehen oder gelernt hat.

Mir passiert das immer mal wieder selbst, obwohl ich mir dieses Effekts bewusst bin. So mächtig ist das. So sehr sind unsere Internetangebote und Apps heute darauf ausgerichtet, unsere Zeit zu verschwenden.

Wer damals, im alten Internet, etwas veröffentlicht hat, tat das wahrscheinlich aus Leidenschaft. Leute schrieben über ihre Hobbys, ihre Fachthemen oder einfach über sich selbst. Natürlich hatte man auch da schon gern einen Zähler auf der Seite, um zu sehen, wie viele Menschen vorbeigeschaut hatten. Aber der Wettbewerb um virtuelle Internetpunkte war noch lange nicht so zentral wie heute.

Plattformen wie Facebook und Instagram leben aber nun einmal davon, dass wir uns so häufig und so lange wie möglich auf ihnen aufhalten. Auf diese Weise lernen sie möglichst viel über unsere Interessen und können uns möglichst viel individuell angepasste Werbung anzeigen.

Wir als Internetnutzer sind in dem Moment das Klickvieh, das den Laden am Laufen hält. 

Das Indie Web hingegen dreht sich um uns als Individuen. Was uns interessiert. Was uns besonders macht. Wir haben uns damals bewusst vernetzt, beispielsweise über Blogrolls. So entstanden natürliche Netzwerke von Menschen, die sich gegenseitig wertschätzten und folgten. Wir verlinkten auf interessante Inhalte untereinander, hatten spannende Diskussionen im Kommentarbereich und beteiligten uns so am Austausch. 

So wie damals wird es nicht wiederkommen und das muss es auch gar nicht. Es war sowieso nicht alles schön und idyllisch damals. Ich will das gar nicht verklären.

Aber ich wünsche mir dennoch mehr Alternativen zu den monolithischen Plattformen, die ab einer bestimmten Größe anfangen, ihre Nutzer zu hassen. So wie Reddit beispielsweise. Da sind die Nutzer willkommen, wenn sie die Zahlen für den kommenden Börsengang aufhübschen und als unbezahlte Moderatoren die Gewinne erhöhen, ansonsten sollen sie aber bitte die Klappe halten.

Oder muss ich die werte Leserschaft an Elon Musks schwelende Social-Media-Ruine erinnern, die nur noch mit einem namenlosen „X“ gekennzeichnet ist? R.I.P. Twitter.

Und nun?

Was sind nun diese Alternativen? Gute Frage! Es gibt sicherlich viele Antworten.

Ich bin etwa ein Freund des Fediverse und finde es vollkommen in Ordnung, dass es seine Schwächen hat. Es muss nicht alles glattgeschliffen und darauf optimiert sein, die maximale Zahl an Nutzern zu bekommen. 

Das verstehen viele nicht, die einen Dienst wie Mastodon danach beurteilen, ob er denn größer ist als Twitter. Nichts könnte mir egaler sein als die Gesamtzahl der Nutzer auf Mastodon oder auf der Mastodon-Instanz, die ich mir ausgewählt habe.

Wenn ich Mitglied in einem Verein werde, dann geht es mir doch auch in erster Linie darum, ob mir der Verein und die Vereinsmitglieder gefallen und nicht darum, ob es irgendwo einen größeren Verein gibt, der aber überhaupt nicht zu mir passt.

Vergessen wird dabei außerdem, dass das gesamte Fediverse untereinander vernetzt ist und miteinander kommunizieren kann. Das ist verständlich, denn wenn man über viele Jahre die abgeschotteten Social-Dienste erlebt hat, kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Im Fediverse kann ich mit meinem Twitter-Account (Mastodon) ebenso bei Lemmy (Reddit) mitmischen oder bei Pixelfed (Instagram).

Bei alldem behaupte ich übrigens gar nicht, dass das Fediverse zum heutigen Stand als Alternative für alle herhalten kann, die momentan noch auf Facebook, LinkedIn & Co. zu finden sind. Das muss es aber auch gar nicht. Zugleich arbeiten die Teams hinter den Kulissen dieser Angebote daran, sie benutzerfreundlicher und leichter verständlich zu machen. Und das ist prima. Es wird sich langsam aber stetig erweitern und verbessern.

Was mir daran gefällt, ist der Grundgedanke: offene, freie Angebote, die von der Gemeinschaft selbst weiterentwickelt werden. Es geht nicht darum, Gewinne zu maximieren. Es geht darum, etwas für die Nutzer zu schaffen.

Ein anderer Punkt sind einfacher zu verstehende Blogging-Angebote und Website-Tools. WordPress beispielsweise hat diese Kategorie lange hinter sich gelassen und ist selbst in seiner Basisversion zu komplex für Laien. Alternativen wie Bludit haben allerdings die Herausforderung, dass man für deren Installation eben doch wieder ein minimales technisches Grundverständnis braucht. Der durchschnittliche Internetnutzer kennt weder FTP noch SSH – so schockierend Nerds das auch finden mögen.

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Hier braucht es also mehr Dienste und Plattformen, die eher wie die klassischen Plattformen funktionieren. Man denke hier an Geocities, dessen Geist als Neocities am Leben erhalten wird. Ja, das ist keine Konkurrenz zu Giganten wie Facebook. Das soll es aber auch gar nicht sein. Es reicht schon, wenn die Leute, die etwas Interessantes zu sagen haben, solche Angebote entdecken und nutzen. Es reicht schon, wenn es für ein bisschen mehr Vielfalt sorgt.

Ich hoffe, das zugleich mehr und mehr Leute verstehen, dass das Social Web und viele Apps vor allem Zeitverschwender sind, die kaum etwas Positives zum Leben oder der Gesellschaft beitragen. Sie triggern stattdessen unsere Schwächen und nutzen sie gnadenlos aus, um mehr Gewinn zu erzielen.

Zeit wird es, dass sich ein Indie Web formt, das für all jene eine Alternative bietet, die aus diesem Kreislauf aussteigen wollen. Orte, an denen man sich mit Gleichgesinnten austauscht, weil man deren Meinungen und Perspektiven zu schätzen weiß und respektieren kann, selbst wenn sie den eigenen Meinungen und Perspektiven widersprechen. Denn das ist möglich, so unwahrscheinlich es heutzutage scheint.

Ein Indie Web, in dem man durch einen glücklichen Zufall in Form eines Links auf eine Seite trifft, die einen total fasziniert – nicht, weil sie versucht, uns die Zeit zu stehlen, sondern weil der Mensch dahinter eine Leidenschaft hat, die ausgedrückt werden will.

Kleine Seiten. Kleine Plattformen. Kleine Netzwerke. Die können sich dann untereinander verlinken und aufeinander verweisen wie sie wollen.

Und dafür bezahle ich dann auch gern. So wie ich für Bludit Pro bezahle, obwohl mir die Basisversion reichen würde. Oder so wie ich für die Suchmaschine Kagi bezahle, obwohl es genügend kostenlose Alternativen gibt.

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Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 112

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