Zahlen spielen im Marketing eine große Rolle, zum Beispiel in Statistiken oder bei A/B-Tests. Aber können wir ihnen vertrauen? Jens Jacobsen zeigt in seiner neuesten Kolumne auf, dass Zahlen zwar nicht lügen, sie uns allerdings in die Irre führen können. Letztlich kommt es darauf an, die Grenzen ihrer Aussagekraft zu verstehen.

Im Büro sitzen sie sich gegenüber: Tatjana, die für jede Entscheidung einen A/B-Test möchte, und Tim, der jeder Zahl misstraut. „Die Daten belegen…“, sagt Tatjana. Tim unterbricht: „Jeder dreht sich die Zahlen, wie er sie braucht.“
Solche Szenen spielen sich täglich in Agenturen und Marketingabteilungen ab. Viele von uns bewegen sich zwischen zwei Extremen: absolutem Vertrauen in Daten und kategorischer Ablehnung jeglicher Statistik.
Warum beide Seiten recht haben
Klar kann man mit Statistik viel Unfug treiben. Das Diagramm, auf dem die Zugriffszahlen für die Website nicht bei 0 pro Tag beginnen, sondern bei 1.000 – so sieht eine Zunahme auf 1.100 gleich viel eindrucksvoller aus.
Oder der Anstieg der Konversionsrate um 20 Prozent – der allerdings nur eine Verbesserung von 1 Prozent auf 1,2 Prozent ist.
Zahlen lügen nicht, aber mit Zahlen lässt sich manipulieren, weil wir wir Menschen kein ausgeprägtes Gefühl für den Umgang mit Zahlen haben. Selbst Leute, die Statistik studiert haben, sind nicht gut darin, etwas kompliziertere Zusammenhänge zahlenmäßig schnell zu erfassen – wie wir spätestens seit Daniel Kahnemann wissen. Daniel Kahnemann, Nobelpreisträger und Pionier der Verhaltensökonomie, hat gezeigt, dass menschliche Entscheidungen oft auf falschen Einschätzungen beruhen.
Ich würde also sagen, beide Seiten haben gute Punkte:
- Die Statistik-Gläubigen haben recht, wenn sie sagen, dass systematisch erhobene Daten uns vor teuren Fehlentscheidungen bewahren können. Warum eine komplette Neugestaltung wagen, wenn wir mit einem gezielten Test herausfinden können, was wirklich funktioniert?
- Die Zahlen-Skeptischen haben recht, wenn sie einwenden, dass hinter vielen vermeintlich datengetriebenen Entscheidungen Missverständnisse, Fehlinterpretationen oder sogar bewusste Manipulationen stecken. Läuft der Test, der zwei Gestaltungsvarianten vergleicht, während der Black-Friday-Woche, ist die Aussagekraft der Ergebnisse zumindest fragwürdig.
Das gelbe-Button-grüne-Button-Dilemma
Ein klassisches Beispiel: Das Team fragt sich, was konvertiert besser – ein gelber oder ein grüner „Jetzt kaufen“-Button?
Wer gleich nach einem A/B-Test schreit, um die Streitfrage zu klären, denkt etwas zu kurz. Denn es ist gar nicht so einfach, das mit einem A/B test zu entscheiden. Für einen aussagekräftigen A/B-Test brauchen wir Tausende von Nutzern, besonders wenn die zu erwartenden Unterschiede gering sind. Auch können Tageszeit, Wetter, Wochentage oder externe Ereignisse die Ergebnisse beeinflussen – um so mehr, je länger die Tests laufen müssen, um die notwenigen Zahlen an Versuchsteilnehmenden zu erreichen.
Und selbst, wenn wir schnell ein eindeutiges Ergebnis bekommen: Wir haben dann keine Ahnung, warum der gelbe Button mehr Umsatz schafft als der grüne. Vielleicht passt Gelb besser zum restlichen Design. Vielleicht hat Gelb mehr Kontrast zu dem Foto, neben dem der Button stand. Ohne das „Warum“ zu kennen, lernen wir nichts für zukünftige Entscheidungen.
Auch bei kleine Stichproben ist Statistik nicht verboten
Andererseits: Es sind nicht immer große Zahlen von Teilnehmenden nötig, um wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Viel zitiert und fast ebenso oft missverstanden ist die Aussage, dass Usability-Tests nur 5 Teilnehmende brauchen, um die gravierendsten Probleme auf einer Website aufzudecken. Und doch: Wenn drei von fünf Personen dasselbe Problem haben, ist das ein statistisch signifikantes Ergebnis für diese Gruppe – und ein klares Signal für ein echtes Problem, das wir beheben sollten. Wir können klar sagen, dass über die Hälfte der Test-Teilnehmendem Probleme hatten. Das können wir aber nicht auf alle Nutzenden übertragen. Es wäre daher falsch, zu behaupten, 60 Prozent der Nutzenden (3/5 entspricht 60%) hätten das Problem.
Der Mittelweg: Zahlen nutzen, wenn sie helfen
Die Kunst liegt darin zu wissen, wann wir Zahlen fordern sollten und wie wir sie richtig interpretieren. Statistiken sind weder Heilsbringer noch Lügenmärchen – sie sind Werkzeuge. Wie bei jedem Werkzeug kommt es darauf an, wie wir es einsetzen.
Und manchmal ist die beste Entscheidung, der eigenen Erfahrung und dem Urteilsvermögen zu vertrauen. Nicht jede Farbentscheidung braucht eine statistische Untermauerung.
Statt uns klar auf die Seite von Tatjana oder Tim zu stellen, sollten wir immer fragen: Was wollen wir wirklich herausfinden? Was machen wir mit dem Ergebnis? Welche Methode ist angemessen?
Wenn wir nicht genau wissen, was wir tun, wenn wir mit Zahlen hantieren, dann treffen wir nicht nur falsche Entscheidungen, sondern wir diskreditieren auch statistische Methoden, die in anderen Fällen sehr nützlich sein können.
Nutzen wir Statistik dort, wo sie uns weiterbringt und vertrauen wir auf unsere menschliche Urteilskraft, wo sie angebracht ist.
Am Ende bleibt die Interpretation von Daten eine zutiefst menschliche Aufgabe – eine, der wir weder mit unskeptischem Glauben folgen sollten, und die wir gleichzeitig nicht rundheraus ablehnen sollten.
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Jens Jacobsen begleitet Unternehmen auf dem Weg zu erfolgreichen interaktiven Anwendungen – von der Planung über die Umsetzung bis zur Optimierung. Als freiberuflicher Usability- und UX-Berater unterstützt er sowohl international etablierte Unternehmen als auch innovative Startups. Sein Fachwissen teilt er in seinen Büchern Praxisbuch Usability & UX (4. Auflage 2024), und Websites entwickeln mit KI (1. Auflage 2025), in Coachings und Seminaren sowie auf www.benutzerfreun.de