Die Geschwindigkeit unserer Gesellschaft erhöht sich. Alles muss Schlag auf Schlag gehen. Nur wer rennt, gewinnt. Ein Effekt daraus: Unser ganzes Leben wird immer mehr zu einer andauernden Beta-Phase. Man nimmt Unfertiges in Kauf, um nicht Zweiter zu sein. Die Dinge dann auch fertigzustellen – dafür ist oft keine Zeit mehr. Eine Bestandsaufnahme.
„Schnell weg da, weg da, weg! Wir haben keine Zeit!“
Foto: bjoernmeyer, Photocase.com
Die Suchmaschine Cuil war der wohl schnellste Absturz eines gefeierten, neuen Web-Angebots überhaupt. Fünf Minuten hat es gedauert, dann war Cuil wieder weg vom Fenster. Der Grund: Die Suchmaschine war schlichtweg nicht fertig, sie funktionierte nicht. Wozu aber hat man sie dennoch online gebracht und im Vorfeld mit Superlativen um sich geworfen? Die Macher müssen doch gewusst haben, dass Cuil nicht halten kann, was sie versprechen. Hier hat selbst das Etikett „Beta“ nichts mehr gebracht.
Dabei ist „Beta“ einer der Modebegriffe des Web 2.0. Er steht für: „Wir haben da was, aber da kommt noch mehr und wenn was nicht geht, dann ist das halt so.“
Ist dagegen etwas einzuwenden? Im Prinzip nicht. Dinge frühzeitig online zu bringen gibt einem die Möglichkeit, mit der Hilfe anderer ein Produkt weiterzuentwickeln. Man kann im besten Fall rechtzeitig feststellen, dass man mit seiner Idee in die falsche Richtung rennt und es korrigieren.
Beta ist solange okay, wie es tatsächlich als Vorstufe zu einem fertigen, funktionierenden Produkt begriffen wird.
Beta aber wird immer mehr zum Dauerzustand. Beta wird zum Beat, in dem wir ticken. Und dieser Beat ist schnell.
Produkte kommen auf den Markt, ohne fertig zu sein. Wieder andere Produkte kommen auf einen Markt, den es noch gar nicht gibt. Was da ist, ist schon so gut wieder weg, weil dessen Nachfolger bereits in Sicht ist – und dessen Nachfolger sowieso.
Viele tausend HD-Fernseher wurden verkauft, von HD-Fernsehsendern in Deutschland aber kaum eine Spur. Das neueste Betriebssystem läuft nur auf Computern, die gerade erschienen sind – am besten aber auf den Rechnern, die demnächst erscheinen. Aber die brauchen dann sowieso wieder ein neues. Handys können tausende Sachen, aber nichts richtig, stürzen beim Telefonieren ab, reagieren langsamer und müssen häufiger an die Steckdose. Dafür können sie UMTS oder sogar HSDPA – schade nur, dass es das noch immer nur sehr lückenhaft gibt. Aber dafür kommt ja jetzt WIMAX. Vielleicht.
Die Probleme des aktuellen Produkts sind noch nicht gelöst, da sind schon die neuen da. Denn wir wissen: In der nächsten Generation wird sowieso alles viel besser.
Angekündigt wird alles, gehalten wenig. Wir rennen und rennen – und dabei gilt eigentlich: Je falscher die Richtung, desto sinnloser die Geschwindigkeit. Aber wen interessiert die Richtung? Schnell muss es gehen. Und schneller.
Eine Denkweise, die sich schleichend auf die Gesellschaft überträgt. Politik wird gemacht, um die nächste Wahl zu überstehen. Der große Zukunftsentwurf? Ja, da gäbe es was, aber dafür ist gerade keine Zeit. Gelöst werden Probleme möglichst schnell, nicht nachhaltig. Man nehme den Status quo und passe ihn an. Man zeige sich aktiv, schon ist man akzeptiert. Ob die Grundlagen stimmen und das Fundament solide ist? Wen interessiert’s?
Unser Privatleben: eine einzige Beta. Wir leben, um etwas zu erreichen. Geld ist wichtig, Ansehen, Besitz. Das, was wir haben, ist nie genug, ist nur Übergangsstadium hin zu dem Paradies, das wir uns erwarten. Wozu um die Gegenwart kümmern, wo doch in der Zukunft alles so wunderbar sein wird? Zu spät die Erkenntnis: Man kommt nie an. Es gibt immer ein nächstes Ziel.
Gerade rauscht die Wirtschafts- und Finanzkrise über uns hinweg. Diese Welle trifft dabei auf viele Web-Startups, die ganz und gar Beta sind, bis hin zum Businessplan. Einnahmen? Brauchen wir nicht. Wir besetzen den Markt. Wir generieren Reichweite. Erst einmal sollen die Nutzer kommen, dann wird man schon sehen… Aber was wird man sehen?
Man wird vor allem sehen, dass Beta keine Geschäftsgrundlage für Krisenzeiten ist.
Und vielleicht ist das am Ende sogar ganz gut so. Denn wir haben gar keine Zeit mehr, unsere Kraft mit halbfertigen Produkten und Angeboten zu verschwenden. Wir wollen Dinge, die funktionieren und zwar richtig und wie versprochen. Wir wollen nicht noch mehr Features, sondern funktionierende Features. Wir wollen nicht die Zukunft, wir wollen die Gegenwart. Und zwar jetzt.
Jan hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Online-Journalist und Digitalpublizist. 2006 hat er das UPLOAD Magazin aus der Taufe gehoben. Seit 2015 hilft er als CONTENTMEISTER® Unternehmen, mit Inhalten die richtigen Kunden zu begeistern. Und gemeinsam mit Falk Hedemann bietet er bei UPLOAD Publishing Leistungen entlang der gesamten Content-Marketing-Prozesskette an. Der gebürtige Hamburger lebt in Santa Fe, New Mexico.
selten wurden weise worte so gelassen ausgesprochen… ;-)
Ich frage mich schon seit langer zeit, wann schneller-höher-weiter als lebens- und geschäftsmodell zusammenbricht. und aus meinem eigenen erfahrungsbereicht: es macht krank.
Schön gesehen!
Sehr guter Bericht… ich selber habe auch eine Beta-Version online gestellt… Sie funktioniert aber :-) Die Funktionen sind zwar noch nicht sehr umfangreich, aber es funktioniert :-)
Aber dieser Artikel hat mich zum Nachdenken angeregt, was mit dieser Website passieren soll…
Sehr schön beobachtete und formuliert. Als Musikuntermalung könnte ich mir noch gut diesen Song
http://www.discoveen.nl/dlwegda.htm
dazu vorstellen ;-)
Hallo Jan, guter Artikel. Mein Trackback-Versuch brachte einen 301er Fehler. Liegt das an Dir oder mir? Du weißt ja, mein selberprogrammiertes Zeuch immer… 8-)
http://www.abgekliert.de/blog/00150-beta.html
Ich glaube immer noch, daß die ursprüngliche Idee des Betas gut ist. Nämlich eine neue Sache gemeinsam mit den Nutzern, die bereit das Risiko auf sich zu nehmen, zu entwickeln und zur Reife zu bringen. Das ist ein kontinuierlicher Dialog, bei der sich beide Seiten engagieren müssen, und am Ende kann etwas stehen, daß viel besser auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnitten ist, als das Produkt, das am Whiteboard entworfen wurde. Aktuelles Beispiel: Google Chrome – viel stabiler als mancher Browser, der schon Jahre am Markt ist, also quasi im Omega-Stadium.
Leider, und da hast du recht, läßt das sich nicht verallgemeinern. DSL-Anschlüsse, Druckertreiber, Support-Hotlines… ein Albtraum, was dem Nutzer da zu gemutet wird. Dabei mit dem Finger auf Web-Startups zu zeigen, trifft aber die falschen. Die Web-Startups liefern in der großen Mehrheit mit einem winzigen Team einen Service und Support, von der die Telekoms, HPs, Microsofts, Siemens, etc dieser Welt nur träumen können.
Vielen Dank für Eure interessanten Rückmeldungen! :-)
Super Artikel hat mich zum denken angeregt, da ich selbst oft an vielen Projekten rumschraube;-)
Man muss Erster sein um Erfolg zu haben, die Kinderkrankheiten werden später ausgemerzt. Siehe Microsoft ;-)
Ja, zum Teil stimmt das. Gerade Microsoft ist allerdings ein Beispiel dafür, dass man eben nicht der Erste sein muss. Windows, Internet Explorer, XBox – bei allen Produkten gab es schon andere Hersteller vor ihnen.
Ebenso Google: Sie sind längst nicht die erste Suchmaschine. Oder der iPod. Das iPhone. Alles erfolgreiche Produkte, die erst nach anderen auf den Markt kamen.
Also bei mir zieht das Argument nicht so richtig :-)
Manchmal muß man aber doch erster sein, um nicht als Nachmacher dazustehen. Ich erinnere mich da so an eine lustige Karte der Blogosphäre…
Hey, da sprichst du mir aus der Seele, schön formuliert! Fortschritt ist ja eigentlich dazu da, für die ganze Zeit und das ganze Geld, das man investiert hat, auch irgendwie einen Gegenwert bekommt, das man jetzt eine Stufe weiter ist. Wenn man sich aber nur entwickelt, bloß weil man schon auf die übernächste Stufe spekuliert, dann ist das ganze Quatsch. Wär genauso wenn ich einen 500-Seiten Text überfliege und am Ende hab ich nix verstanden.
Da ist viel Wahres dran.
Mir geht es zum Beispiel so, dass ich viel lieber etwas länger an einem Artikel oder einer Artikelserie und überarbeite sie vielleicht noch mal, um sie dann online zu stellen. Ich stelle aber fest, dass diese Arbeitsweise überhaupt nicht in die üblichen Muster der Blogosphäre passt.
Über das Berliner Barcamp haben die meisten Leute parallel gebloggt oder am Tag darauf. Ich hätte mich gar nicht wirklich auf neue Inhalte konzentrieren können, wenn ich mich zwingen würde, dass ganze in der nächsten Pause oder am Abend zu bloggen. Manches will man ja auch gedanklich etwas intensiver verarbeiten.
Wahrscheinlich darf man sich einfach nicht stressen lassen und muss sein eigenes Ding finden.
Schönes Foto übrigens.
„betatime“… sehr, sehr wahr! Aber man macht es mit, weil man teilweise nicht anders kann. Ich finde es steckt mehr dahinter, z.B. hinter der Einstellung, sich mit seinen Zielen in der fernen Zukunft zu orientieren. Warum nicht mal das Ende des Tages als Ziel setzen, oder das Wochenende? Warum das ganze Leben auf die Wahrscheinlichkeit einer Möglichkeit ausrichten?
Selten einen Artikel gelesen der mir so aus der Seele spricht wie dieser.
ja es ist wahr. bei uns in der agentur werden die sachen fertiggekloppt wie blöd. nur ein beispiel. denn das war auch mal anders.
ich habe auch das gefühl, ich kann mich kaum noch auf eine sache richtig konzentrieren. 1000 dinge müssen immer paralell gehen. allein die tabs im browser sind schon ein fluch…
Ein schön geschriebener Artikel, der meiner Meinung genau das beschreibt, was gerade in der Gesellschaft passiert. Und weil alles irgendwie beta ist, wird mein Kommentar einfach unfertig hier end
Das Beta-Bewusstsein durchdringt übrigens alle Lebensbereiche: Beta-Beziehungen dominieren, Beta-Jobs ebenso. Wann kommt wenigstens für den PC der Betablocker?
Vielen Dank für Eure interessanten Rückmeldungen und Ergänzungen. Freut mich, das ich mit diesen Beobachtungen und Gedanken nicht alleine bin.
@FraRa: Es gibt sogar einen universellen „Betablocker“ würde ich behaupten wollen – Dich. Du bestimmst, was Du noch mitmachst und was nicht mehr. Gut: Das hat seine Grenzen. Aber die sind viel weiter gesteckt, als man denken könnte. Oftmals gibt man sich einem gesellschaftlichen Druck, dem berühmten Gruppenzwang hin. Nur zu gern lässt man sich auch von geschicktem Marketing verführen. Ich erwische mich bei all diesen Dingen jedenfalls immer wieder selbst. Nüchtern betrachtet ist der Großteil dessen, womit wir uns beschäftigen und vor allem der Großteil dessen, wofür wir Geld ausgeben, schlichtweg überflüssig.
Ob mein Kommentar hier zu diesen überflüssigen Dingen zählt und ich die Zeit besser hätte verwenden sollen – das Urteil überlasse ich Dir ;-)
Jan hat es gut beschrieben. Habe gleiche Erfahrungen gemacht, hin bis zu den angeblichen HD-Fernsehern und so vielen Sites die dann keinen Bestand hatten. Daher stehe ich als Buchhändler auch auf Qualität – aber die gibts auch unter dem Begriff Web 2.0. Es ist doch spannend die Entwicklung zu verfolgen. Beispiel Twitter. Vor einem Jahr war das für mich totaler Unfug, jetzt kommen erste Buchkäufer – es geht ! :-D cu, Bernhard