Was ist Barrierefreiheit und wie setzt man sie um? Darum geht es in diesem Beitrag von Anne-Marie Nebe. Sie weist darin zudem nicht nur auf die aktuellen und kommenden gesetzlichen Grundlagen hin wie den European Accessibility Act (EAA). Sie zeigt darüber hinaus auf, warum Accessibility auch im Interesse der Unternehmen ist.
Diesen Beitrag aus dem April 2021 haben wir zuletzt im September 2024 überprüft und aktualisiert.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Die schnelle Google-Suche nach Informationen, die Nutzung von Apps jeglicher Art, Online Shopping und Booking, Videochats und Web-Konferenzen oder die digitale Erledigung von Behördenangelegenheiten: Der Klick im Netz gehört heute für die meisten Menschen zum Alltag – im Privaten wie im Beruflichen, zum Spaß oder als Grundlage für ein funktionierendes Homeoffice.
In der Europäischen Union sind jedoch rund 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger von Beeinträchtigungen betroffen, die ihnen die Nutzung solcher Dienste erschweren, zum Beispiel aufgrund von Seh- oder Hörbehinderungen, motorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Allein in Deutschland leben 12,8 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung; 7,8 Millionen gelten als schwerbehindert. Barrierefreiheit ist für 10% der Menschen unerlässlich, für 30 % notwendig und für 100 % nützlich.
Barrierefreiheit ist für 10 % der Menschen unerlässlich, für 30 % notwendig und für 100 % nützlich.
Nehmen wir nur einmal das Beispiel Online Shopping: Im Februar 2017 testeten acht Barrierefreiheitsexperten im Auftrag der T-Systems MMS die Webauftritte der 15 größten Onlineshops in Deutschland auf Nutzbarkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen:
- Nur einer der geprüften Shops erreichte für alle betrachteten Nutzergruppen die Note „gut zugänglich“.
- Zehn Shops hatten so große Mängel, dass User mit einer Beeinträchtigung die Webseiten nicht eigenständig nutzen konnten.
- Vier der untersuchten Onlineshops konnten nicht effizient erreicht und bedient werden und waren nur mit Einschränkungen zugänglich.
Und Onlineshops sind keine Ausnahme. Die digitale Welt ist mitnichten grenzenlos, sondern präsentiert sich für zu viele Menschen mit teils unüberwindbaren Hürden.
Welche Hindernisse müssen wir also aus dem Weg räumen, damit privat und beruflich genutzte digitale Anwendungen für alle gleichermaßen zugänglich und bedienbar sind?
Regulierung der Teilhabe durch Gesetze und Normen
Es hat sich durchaus bereits einiges getan, um die Teilhabe aller an den vorhandenen digitalen Angeboten sicherzustellen. Wie so oft geht dem Handeln das Reden voraus: Neben nationalen gesetzlichen Anforderungen aus dem Arbeitsschutz und der Sozialgesetzgebung gibt es verschiedene europäische oder internationale Gesetze zur Gleichstellung sowie eine Reihe von Normenkatalogen, die teils für Unternehmen, teils für Behörden, teils für beide gelten.
So hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. mit der DGUV Information 215-450 (PDF) einen Katalog zur Software-Ergonomie mit Forderungen zur Nutzungsqualität von Softwareprodukten und Anwendung von Software im Arbeitsprozess herausgegeben. Der Katalog beruht auf den gesetzlichen Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes, speziell der Arbeitsstättenverordnung und der Bildschirmarbeitsverordnung und beschreibt die barrierefreie Gestaltung und Nutzung von Software in Unternehmen.
Neben dem Arbeitsschutzgesetz finden sich auch im Sozialgesetzbuch wichtige Regelungen zur Teilhabe: So verpflichtet SGB IX §164 Arbeitgeber zur Herstellung barrierefreier Arbeitsplätze – der Zugang zu digitalen Anwendungen gehört hier selbstverständlich dazu.
Auch das Deutsche Institut für Normung e.V. (DIN) hat mit der DIN EN ISO 9241 einen Normenkatalog zur Mensch-System-Interaktion zusammengestellt. Er umfasst die Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit von Software, Grundsätze der Informationsdarstellung und Dialogprinzipien sowie Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software.
2018 trat ein neues Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen auf Grundlage der EU-Richtlinie 2016/2102 in Kraft, das klare Anforderungen an den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen formuliert.
Mussten bis 2019 lediglich neue Webseiten öffentlicher Stellen barrierefrei zugänglich sein, so galt das Gesetz 2020 bereits für alle, auch bestehende Webseiten öffentlicher Stellen. Ab Mitte 2021 müssen auch mobile Anwendungen, elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe, einschließlich der Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung und elektronischen Aktenführung sowie grafische Programmoberflächen barrierefrei sein. Druck beschleunigt das Handeln.
Ebenfalls 2018 wurden mit den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 neue internationale Web-Richtlinien zur Barrierefreiheit verabschiedet.
Bedeutung und Anforderungen des European Accessibility Act (EAA)
Der European Accessibility Act (EAA) ist die jüngste Regelung, die nun auch Unternehmen mit Nachdruck in die Pflicht nimmt. Sie fordert, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen ab 2025 nutzerfreundlich gestalten und barrierefrei zugänglich machen. Anders formuliert: Die Angebote müssen auf kohärente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich sowie robust und somit für alle Menschen nutzbar sein. Sonst drohen Sanktionen. Zur Kontrolle der Umsetzung werden die Mitgliedstaaten eine entsprechende Überwachungsbehörde einrichten und geeignete Durchsetzungsverfahren entwickeln.
Das Gesetz ist für die meisten deutschen Unternehmen und Organisationen relevant, denn es betrifft alle Wirtschaftsakteure innerhalb der EU, mit Ausnahme von Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Jahresumsatz und/oder einer Jahresbilanz von unter 2 Millionen Euro.
In erster Linie steht dabei die Barrierefreiheit von Kundenterminals, Kommunikationsdiensten, Plattformen und Services für den Online-Handel, Bankdienstleistungen sowie die Personenbeförderung im Fokus.
Auf der Produktseite gelten die neuen Vorschriften für Hardware und Betriebssysteme, Geräte für elektronische Kommunikationsdienste und den Zugang zu audiovisuellen Medien, E-Book-Lesegeräte sowie Selbstbedienungsterminals wie Geldautomaten, Zahlungsterminals, Fahrausweis- und Check-in-Automaten und interaktive Selbstbedienungsterminals.
Denken wir an Dienstleistungen, so umfasst der EAA alle elektronischen Kommunikationsdienstleistungen, audiovisuelle Medien und E-Books, den elektronischen Handel und Bankdienstleistungen sowie Webseiten, Web-Apps und native Apps, elektronische Tickets und Ticketdienste, Informationen zum Beförderungsdienst und interaktive Selbstbedienungsterminals im Luft-, Bus-, Schienen- und Schiffsverkehr.
Tätige in der Konzeption, im Design und der Entwicklung sollten deshalb spätestens heute bei der Entwicklung von Angeboten streng auf die Anforderungen aller Nutzenden und die vollständige Barrierefreiheit achten. Und auch Unternehmen, die die Konzeption und Entwicklung digitaler Produkte oder Dienstleistungen selbst planen oder in Auftrag geben, müssen verstehen, worauf es bei der Barrierefreiheit ankommt. Das setzt natürlich voraus, dass sie entsprechend sensibilisiert und geschult werden.
Sensibilität für die Bedürfnisse aller Nutzer als Grundlage für Konzeption und Entwicklung
Barrierefreiheit kann nicht hergestellt werden, ohne auch in den Bereichen Usability und User Experience eine nutzerzentrische Perspektive einzunehmen. Design, Branding, Service, Interaktion und Content müssen uneingeschränkt zugänglich sein, dürfen keine Hürden darstellen und dadurch versperrt werden. Ebenso muss eine störungsfreie Funktionalität des Angebots gewährleistet sein.
Infrastruktur, Inhalte und Gestaltung müssen also so konzipiert sein, dass diese möglichst keine Hindernisse darstellen. Für niemanden.
Am Anfang steht auf dem Weg zur Barrierefreiheit immer die Anforderungsanalyse für alle denkbaren Nutzergruppen. Welche Funktionen benötigen welche Nutzer*innen? Wie kann eine aufgabengerechte Bedienoberfläche aussehen? Welche Bedien- und Gestaltungselemente könnten Fehlerquellen oder Hindernisse darstellen? Können Fokusgruppen in den Entwicklungsprozess mit einbezogen werden?
Mit Blick auf die Bedürfnisse aller Nutzerinnen und Nutzer und mögliche Einschränkungen ergeben sich zahlreiche Ansatzpunkte für einen barrierefreien Zugang zu digitalen Angeboten. Viele davon klingen im ersten Moment beinahe selbstverständlich, sind es jedoch leider allzu oft – noch – nicht.
Anforderungen von Menschen mit Beeinträchtigungen an die IT
Sehschädigungen
Wen betrifft es?
So haben rund 14 Millionen Menschen in Deutschland im Alter von 18 bis 65 Jahren eine Sehschädigung wie Farbfehlsichtigkeit, verringerte Sehstärke, Einschränkungen durch den grauen oder grünen Star, diabetische Netzhauterkrankungen oder altersabhängige Makula-Degeneration. 576.000 Menschen leben mit einer ausgesprochenen, amtlich anerkannten Sehbehinderung.
Was hilft?
Ihnen kann der Zugang zu digitalen Angeboten deutlich erleichtert werden, indem bei der Entwicklung auf hohe Farbkontraste und gut lesbare Schriftgrößen geachtet wird. Oft werden diese Aspekte bei der visuellen Gestaltung von Webseiten und Apps jedoch nicht beachtet – man denke nur an das berühmte Beispiel weißer Text auf hellgrünem Grund oder an schwer differenzierbare Kombinationen von Blau- und Rottönen. Zudem sollten sich Schriftgrößen individuell einstellen lassen und Informationen, zum Beispiel in Grafiken oder farbkodierten Menüführungen, nicht nur durch die Farbgebung vermittelt werden.
Für blinde Nutzende, die auf Hilfsmittel wie Screenreader, Braillezeile oder Kopfhörer angewiesen sind, sollten zudem Alternativtexte für grafische Inhalte angeboten und auf die Abbildung von Text- und Layout-Strukturen auf Code-Ebene geachtet werden. Auch aussagekräftig beschriftete Links und Überschriften sind für sie ebenso wichtig wie die Möglichkeit zur Tastatursteuerung.
Hörschädigungen
Wen betrifft es?
Ebenfalls rund 14 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Hörschädigung. Sechs Millionen davon sind mittel bis hochgradig schwerhörig. Auch hier gelten rund eine halbe Millionen Bürgerinnen und Bürger als amtlich hörbehindert.
Was hilft?
Für diese hörgeschädigten oder gehörlosen Menschen ist es wichtig, verschiedene Kommunikationswege bereitzustellen – je nachdem, welcher Nutzer mit welchem Grad der Einschränkungen welche Hilfestellung benötigt. So sollten Videos stets untertitelt oder mit Gebärdensprache ausgestattet sein. Informationen sollten zudem in leichter Sprache angeboten und Texte gut strukturiert werden, um sie visuell schnell aufnehmen zu können.
Seh- und Hörbeeinträchtigungen sind die beiden Szenarien, die den meisten sofort in den Sinn kommen, wenn es um barrierefreien Zugang zu digitalen Angeboten geht – immerhin denken wir an audiovisuelle Medien. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass auch motorische und kognitive Einschränkungen Nutzer*innen vor Herausforderungen stellen können.
Motorische Einschränkungen
Wen betrifft es?
Verschiedene Krankheitsbilder wie etwa deformierte oder fehlende Gliedmaße, geschädigte Knochen, Gelenke oder Muskeln oder eine geschädigte Hirnfunktion wie etwa bei Tremor-Erkrankungen oder Ticks führen zu motorischen Beeinträchtigungen, die die Bedienung von digitalen Angeboten erschweren.
Was hilft?
Die Probleme sind auch hier unterschiedlich stark ausgeprägt: So kann der eine Nutzer aufgrund von Spasmen oder Tremor etwa die präzise Ansteuerung von Funktionen wie zum Beispiel das Setzen von Häkchen in kleinen Boxen nicht ausführen, ein anderer hingegen kann vielleicht die Texteingabe über Tastaturen nicht vornehmen. Hier schaffen alternative Tastatursteuerung, großzügig gestaltete Touch- und Klickflächen sowie Produkte mit großen Tasten Abhilfe.
Kognitive Einschränkungen
Wen betrifft es?
Schließlich gibt es eine Reihe kognitiver Einschränkungen, die bei der Konzeption und Gestaltung digitaler Angebote mitgedacht und berücksichtig werden müssen. Dazu zählen neurologische Beeinträchtigungen, sowie Lernbeeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen oder psychische Funktionsstörungen.
Was hilft?
Betroffenen kann man entgegenkommen, indem Unternehmen bei der Gestaltung ihrer Angebote möglichst darauf achten, Fehlerquellen zu vermeiden. Sie sollten Inhalte kurz, klar und einfach halten und Redewendungen, Fremdwörter oder Sinnbilder vermeiden.
Ein bekanntes Beispiel für barrierefreie Sprache sind etwa die entsprechenden Informationsangebote von Parteien vor Wahlen oder von Behörden. Auch Unternehmen sollten darauf achten, durch komplex gestaltete Sprache niemanden auszuschließen. Auch Systemmeldungen sollten klar und einfach formuliert werden, um das Verständnis zu fördern.
Barrierefreiheit als Teil der Corporate Responsibility
Für Unternehmen, die jetzt in das Thema Digital Accessibility einsteigen, empfiehlt sich ein mehrstufiger Projektplan:
- Im ersten Schritt ist es wichtig, Ziele zu definieren. Grundlage dafür ist die Erstellung eines Wertekatalogs, der die angestrebte Haltung des Unternehmens zum Thema Inklusion und Barrierefreiheit widerspiegelt. Aus diesem Wertekanon lassen sich ein Leitbild und eine Vision ableiten sowie Ziele definieren, was zu tun ist, um vom Jetzt zum Wunschzustand zu gelangen.
- Im zweiten Schritt muss die Perspektivumkehr stattfinden. Unternehmen müssen ihre Nutzergruppen verstehen und Anforderungen definieren, die ihre digitalen Angebote erfüllen müssen, um für alle zugänglich zu sein. Die Arbeit mit Fokusgruppen kann hier sehr hilfreich sein.
- Als nächstes gilt es, die nötigen Kompetenzen aufzubauen und Mittel bereitzustellen. Es müssen Expertinnen und Experten hinzugezogen und Methoden für eine erfolgreiche Umsetzung entwickelt und integriert werden.
- Am Ende steht die tatsächliche Bereitstellung barrierefreier und nutzerfreundlicher Dienstleistungen und Produkte sowie die iterative Testung für alle denkbaren Personengruppen.
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Win-Win-Situation für Anwender und Unternehmen
Die Fülle individueller Bedarfe unterschiedlicher Nutzergruppen mag im ersten Moment erschlagend wirken. Unternehmen sollten sich aber bewusst machen, dass die Umsetzung der Richtlinien zur Barrierefreiheit nicht nur Vorteile für die Nutzer und Entwicklungskosten für den Anbieter digitaler Produkte oder Dienstleistungen mit sich bringt. Sie hat auch wirtschaftlich Vorteile: Je mehr User digitale Angebote wahrnehmen können, desto höher sind Konversionsrate und Umsatz.
Barrierefreie Angebote erweitern die Zielgruppen und steigern die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen. Zudem greifen weniger Nutzer*innen auf nicht-digitale Angebote zurück, die in der Bereitstellung meist deutlich teurer und personalaufwendiger sind – das zahlt sich zum Beispiel im Bereich des Supports und Kundenservice aus.
Barrierefreie Angebote erweitern die Zielgruppen und steigern die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen.
Schließlich sorgen barrierefreie Angebote auch im Unternehmen selbst für mehr Effizienz. Gute Software-Ergonomie und barrierefrei zugängliche digitale Anwendungen führen dazu, dass Nutzer*innen ihre Arbeitsaufgaben schneller und sicherer ausführen. Das ist nicht nur im Bereich der Inklusion ein wichtiger Faktor, sondern erleichtert allen Anwendern den Arbeitsalltag.
Barrierefreier Zugang zu digitalen Anwendungen ist deshalb nichts, was ausschließlich zugunsten von Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen durchgesetzt werden soll. Die einfachste funktionierende Lösung ermöglicht ein positives Nutzererlebnis für alle User.
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Anne-Marie Nebe ist Repräsentantin der neu gegründeten deutschsprachigen Niederlassung der International Association of Accessibility Professionals (IAAP) und Accessibility und Usability Expertin bei T-Systems MMS. Accessibility ist seit vielen Jahren ihr Themengebiet. Ihre Vision ist es, (digitale) Barrierefreiheit in Deutschland zum Mainstream zu machen.
2020 wurde Anne-Marie Nebe für ihr besonderes Engagement im Arbeitskreis Barrierefreiheit mit dem Usability Achievement Award des Berufsverbands German UPA e.V. ausgezeichnet.
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