Es ist lobenswert, wenn sich Unternehmen nicht nur um ihre eigenen Profite bemühen, sondern auch die Welt verbessern wollen. Jens Jacobsen fragt sich in seiner neuesten Kolumne allerdings, wie glaubwürdig und sinnvoll manche Versprechen überhaupt sind – und wann sie in Greenwashing abrutschen oder gleich ins Absurde.
Zwischen echtem Engagement und Greenwashing
Heute Morgen habe ich die Welt gerettet. Ich trank eine Tasse Kaffee von einem lokalen Röster, der seine Bohnen von Kleinbauer:innen in Kolumbien erwirbt, auf faire Arbeitsbedingungen achtet und den Transport CO2-kompensiert.
Das ist jedenfalls, was mir Website und Marketingtexte auf der Verpackung weismachen wollen. Wir als Konsumierende sind dafür verantwortlich, die Klimakrise zu beheben, Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und überhaupt uns alle zu besseren Menschen zu machen.
Ich bin der letzte, der sagt, das das nicht drängende Probleme sind, die wir zu lösen haben. Dringend. Und ich begrüße, dass sich Unternehmen auch damit befassen, was sie mit der Welt anrichten, auf der wir alle leben.
Natürlich gibt es schon seit Jahren Unternehmen, vor allem große, weltweit agierende Konzerne, die ständig vor sich her tragen, wie sehr sich sich für Soziales und/oder Umweltschutz einsetzen.
Typische Vertreter dafür sind der Lebensmittelhersteller Nestlé, der sich gern als nachhaltig darstellt – aber immer wieder in der Kritik steht, etwa weil nicht genug unternimmt, um Kinderarbeit bei seinen Zulieferern auszuschließen, er Umweltschutzauflagen nicht ausreichend beachtet oder Wasserrechte aufkauft, die die Belange der Bevölkerung vor Ort nicht berücksichtigen.
Oder der Mineralölkonzern BP, der sich neuerdings als Vorreiter der Nachhaltigkeit gibt, obwohl er nach eigenen Angaben für 33 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr allein aus Verbrennung von fossilen Rohstoffen verantwortlich ist. Der Vorwurf des Greenwashing steht da schnell im Raum und kann bei großen Firmen leider viel zu oft belegt werden.
Diese Themen sind komplex und im Einzelfall zu betrachten. Und wir sind es gewohnt, solche Aussagen großer Konzerne kritisch zu hinterfragen. Doch auch einige kleine Anbieter versprechen mehr, als sie jemals halten können.
Muss jedes Produkt gleich die Welt retten?
Müssen wir wirklich alles so hoch aufhängen? Muss jedes Produkt gleich die Welt retten? Wenn wir es übertreiben mit unseren Marketingversprechen, schaden wir nicht nur langfristig unserer eigenen Glaubwürdigkeit. Wir machen unser Anliegen, hinter dem wir voll und ganz stehen, auf lange Sicht beliebig.
Der Online-Whiteboard-Dienst Miro spricht von der Demokratisierung der (Nutzungs-)Forschung. Ziemlich absurd für ein Unternehmen, das natürlich Geld verdienen will wie jedes andere auch. Es klingt, als sollte Menschen kostenlos etwas zugänglich gemacht werden, was die Welt voranbringt. Aber es geht natürlich darum, möglichst viele Nutzende des Dienstes zu haben – wenn jeder Mensch in jedem Unternehmen Nutzungsforschung macht, braucht jeder den Dienst. Völlig in Ordnung, aber das unter dem Begriff „Demokratisierung“ laufen zu lassen? Dass dahinter eine Idee des MIT-Wirtschaftswissenschaftlers Eric von Hippel steht, macht es nicht besser (siehe sein Buch „Democratizing Innovation“ von 2005).
Aber Miro ist nicht allein mit der vermeintlichen Demokratisierung. Gerade US-amerikanische Tech-Unternehmen nutzen den Begriff Demokratie bzw. Demokratisierung häufig. Könnte das was mit dem Zustand der Demokratie in ihrer Heimat zu tun haben? Der Tabellen-Dienst Airtable will Daten demokratisieren. Der Notizbuch-Dienst Notion will Produktivität demokratisieren. Der Script-Service Zapier will Automatisierung demokratisieren. Und Anbieter günstiger Kosmetik verkaufen ihr Geschäftsmodell als „Demokratisierung der Schönheit“.
Gerade US-amerikanische Tech-Unternehmen nutzen den Begriff Demokratie bzw. Demokratisierung häufig. Könnte das was mit dem Zustand der Demokratie in ihrer Heimat zu tun haben?
Aber auch Waschmittel als Vorkämpfer für Frauenrechte findet man. Zitat von der Website:
Bevor es Waschmaschinen gab, waren Frauen auf der ganzen Welt an ihre traditionellen Haushaltsrollen gefesselt. Sie mussten die Wäsche per Hand waschen und waren mehrere Stunden täglich mit ihren Haushaltsaufgaben beschäftigt. Die Waschmaschine bedeutete eine enorme Veränderung im Leben der Frauen, und Ariel war an der Spitze dieser Revolution.
Hauptziel (Vision) von Ariel war es, das Leben der Frauen zu verbessern. Während der Waschvorgang vereinfacht wurde, gleichzeitig aber beste Reinigungsleistung und eine noch bessere Fleckentfernung geliefert werden sollten, konnten Frauen von ihren traditionellen Rollen im Haushalt befreit werden. […]
Doch das war nicht genug für ein Unternehmen, das Frauen wirklich befreien wollte. Das bahnbrechende Waschmittel von Ariel wurde verbessert: 1985 kam das erste Flüssigwaschmittel auf den Markt.
Dieser Text steht heute, im Jahr 2023, auf der Website von Ariel. Ich denke, er spricht für sich. Rolle der Frau. Revolution. Befreiung. Flüssigwaschmittel.
Apropos Revolution: Das britische Luxuskaufhaus Harrods bewirbt einen hellblauen Pulli der Marke Off-White so:
Show the world that you’re a revolutionary who doesn’t play by the rules with this Off-White sweater.
Für knapp 1.000 Pfund kann ich zeigen, was für ein Revoluzzer ich bin – einfach nur, indem ich einen Pulli trage. Bevor ich darüber weiter nachdenke, mache ich mir jetzt lieber nochmal so einen guten demokratischen Kaffee.
Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 111
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Interaktive Anwendungen erfolgreich planen, umsetzen und optimieren – das sind die Themen von Jens Jacobsen. Er arbeitet freiberuflich als Usability-/UX-Berater für etablierte, international agierende Unternehmen wie auch für kleine Startups. In seinen Büchern „Website-Konzeption“ (2001, 8. Auflage 2017) und „Praxisbuch Usability & UX“ (2017, 3. Auflage 2022) gibt er sein Wissen weiter, ebenso bei Coachings/Seminaren und auf www.benutzerfreun.de.
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