Entwickelt ein Unternehmen ein neues Angebot oder Produkt, haben es die Verantwortlichen oft mit viel Zeitdruck zu tun und müssen Mitarbeiter von verschiedenen Abteilungen effizient führen. In diesem Artikel zeigen Toni Steimle und Dieter Wallach auf, wie Sie in sieben Workshops zum Ziel kommen und dabei die User Experience stets im Blick behalten. Sie stützen sich dafür auf erfolgreiche und beliebte Methoden wie Design Thinking, Lean und Agile.
Inhaltsverzeichnis
Die Ausgangssituation
Fortlaufend komplexer werdende digitale Produkte sind in immer kürzerer Zeit zu konzipieren und umzusetzen. Agile Entwicklungsmethoden begegnen dieser Herausforderung. Die Aktivitäten zeitlich überdauernd zusammenarbeitender, cross-funktionaler Teams müssen hierzu koordiniert werden. Um diese Zusammenarbeit gezielt zu steuern, empfehlen agile Vorgehensmodelle wie Scrum eine Reihe von Workshops und Meetings wie „Sprint Planning“, „Daily Scrum“, „Sprint Review“ und „Sprint Retrospective“. Doch beziehen sich diese Workshops auf die Umsetzung des Produktes – die „Product Delivery“ – und nicht auf dessen Konzeption – die „Product Discovery“.
Die Phase der Produktkonzeption ist häufig durch eine Verbindung von Zeitdruck und Komplexität charakterisiert. Eine Reihe sorgfältig aufeinander abgestimmter Workshops ist deshalb notwendig, in denen interdisziplinär zusammengesetzte Teams effizient zusammenarbeiten können.
Unser Buch Collaborative UX Design beschreibt ein Vorgehensmodell auf der Basis von sieben solcher Workshops: Sie orchestrieren die Aktivitäten eines interdisziplinären Teams bei der kollaborativen Produktkonzeption. Collaborative UX Design ist in seinen Eckpfeilern auf Ansätzen des Design Thinking, Lean UX, Agile Development und menschzentrierten Gestaltungsmodellen gegründet.
Teil 1: Die sieben Workshops auf einen Blick
Der Prozess der Produktkonzeption beginnt mit einer Analyse der Ausgangssituation und des zu lösenden Problems: der Projektauftrag wird geklärt. Danach arbeitet das Team iterativ an der Lösungsfindung und erkundet hierbei verschiedene Konzeptvarianten. Anschließend definieren sich die Teammitglieder gemeinsam eine Roadmap zur Umsetzung des gefundenen Lösungskonzeptes.
Schauen wir uns die sieben Workshops etwas genauer an. Wir haben die Problemanalyse zum Beispiel in zwei Workshops unterteilt.
Im Scoping Workshop schärfen die Teammitglieder gemeinsam mit der Auftraggeberin den Kern des Projektauftrags. Das Team arbeitet den Status Quo der Produkte von Marktbegleitern heraus und charakterisiert die Besonderheiten, Vorzüge und Nachteile dieser Lösungen. Ein wesentliches Ziel des Scoping Workshops liegt darin, die hinter einem Auftrag liegenden, oft impliziten, Annahmen aufzudecken und beispielsweise vorhandene Hypothesen über die Nutzer einer Applikation zu konkretisieren. Im Scoping Workshop werden kritische Annahmen identifiziert und Forschungsmaßnahmen zu deren Überprüfung ausgewählt.
Nach dem Scoping Workshop können die definierten Forschungsmaßnahmen in Angriff genommen werden: ein Arbeitsplan zur Vorbereitung des nächsten Workshops entsteht.
Im Inspiration & Synthese Workshop werten die Mitglieder eines Teams die Ergebnisse der Forschungsaktivitäten aus. Dazu erstellen sie Beschreibungen bestehender Arbeitsabläufe und identifizieren Produktchancen zu deren Optimierung. Analysen im Inspiration & Synthese Workshop erlauben es, die Annahmen zu Nutzern zu überprüfen und unterstützen die Formulierung empirisch fundierter Personas als archetypisch modellierte Nutzervertreter. An diesem Punkt ist eine Reflektion des zuvor definierten Projektauftrags wichtig: Ist dieser mit dem neuen Wissensstand noch vereinbar oder sind Korrekturen notwendig? Oft ist es hilfreich, das Management im Inspiration & Synthese Workshops einzubinden.
Die beiden bisher skizzierten Workshops beschäftigen sich vor allem damit, ein umfassenden Problemverständnis zu erlangen: Es werden Hypothesen gebildet, Fakten gesammelt und Hypothesen validiert. Die folgenden Workshops konzentrieren sich auf die Lösungsfindung.
Im Ideation Workshop sucht das Team nach Lösungsideen für identifizierte Produktchancen. Im Workshop kommen unterschiedliche Kreativmethoden zur wechselseitigen Inspiration der Teammitglieder zur Anwendung: Ziel des Workshops is eine möglichst große Ideenvielfalt. Als Ergebnis des Ideation-Workshops entsteht ein priorisierter Ideenkatalog zur Produktgestaltung.
Im Konzept-Workshop formen die Teilnehmer den zuvor erarbeiteten Ideenkatalog zu einem kohärenten Lösungskonzept. Sie entwickeln eine Vision möglicher Nutzungsszenarien und leiten auf dieser Grundlage ein Bild über zukünftige Funktionalitäten einer Lösung her. Im Konzept-Workshop entsteht eine erste, zunächst noch abstrakte Sicht auf das User Interface des zukünftigen Produktes. Dieses wird sukzessive konkretisiert, bis schließlich ein Konzeptvorschlag für das Produkt entsteht.
Hinter dem erarbeiteten Konzeptvorschlag verbergen sich erneut Annahmen: Annahmen zu Nutzerbedürfnissen und Annahmen zur Eignung bestimmter Lösungsansätze. Die Identifikation dieser Annahmen bildet den Gegenstand eines Prototyping Workshops, der die Erstellung einer ersten interaktiv erlebbaren Version des Produktkonzeptes zum Ziel hat. Die Validierung des Prototyps steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Validierungs-Workshops. Hierzu leiten die Teammitglieder einen Validierungsplan ab, der beschreibt, welche Art eines Prototyps zur Validierung des Konzeptes geeignet ist. Anschließend beginnen sie damit, gemeinsam einen Prototyp auszuarbeiten. Ziel ist hierbei nicht, die Lösung zu spezifizieren, sondern vornehmlich die Konzeptüberprüfung vorzubereiten.
Nach dem Prototyping Workshop wird der Prototyp finalisiert und getestet. Dann ist es möglich, Nutzer bei der Verwendung eines Prototyps beobachten zu können um deren Rückmeldungen in die Fortentwicklung erarbeiteter Konzepte einfließen zu lassen.
Im Validierungs-Workshop wertet die Mitglieder die Ergebnisse dieser Beobachtungen aus. Sie tragen die protokollierten Beobachtungen zusammen, kategorisieren und gewichten sie. Im Validierungs-Workshop nehmen sie dabei fortlaufend Bezug auf die ursprünglich definierten Annahmen und evaluieren, ob das entwickelte Konzept auf einem hinreichend belastbaren Fundament steht. Können sie diese Frage positiv beantworten, können sie das Konzept in einem ersten kleinen Release umsetzen und anschließend Marktfeedback erheben.
Im letzten Workshop — der MVP-Planung — erstellen die Teammitglieder eine Produkt-Roadmap. Ziel ist es, eine erste minimale Version eines überzeugenden Releases, ein Minimum Viable Product, festzulegen. Hierzu werden die relevanten Funktionalitäten eines Produktes im Team erneut priorisiert. Verschiedene Faktoren wie der erwartete Nutzen für Anwender und Kunden, der Beitrag zur Erreichung von Businesszielen oder die Kosten einer Umsetzung müssen die Mitglieder berücksichtigen. Die Roadmap wählen sie so, dass sie eine Formulierung überprüfbarer Hypothesen zulässt.
Teil 2: Workshop-Prinzipien und Beispiele
Damit diese sieben Workshops effizient und erfolgreich verlaufen, folgen sie einer Reihe zentraler Prinzipien. Einige wesentliche Prinzipien seien nachfolgend beispielhaft dargestellt.
1. Ergebnisorientierte Gestaltung
Der Workshop-Leiter muss bereits vor dem Workshop eine Vorstellung von den erreichbaren Ergebnissen haben — natürlich nicht inhaltlich, aber im Hinblick auf deren Struktur.
Die Arbeit mit Workshop-Karten ist dabei sehr hilfreich. Workshop-Karten erlauben es, erreichte Zwischenergebnissse anschaulich zu visualisieren, flexibel zu ändern und zu erweitern. Dabei kann durch die Karten auch die Struktur des gewünschten Ergebnisses gut vorgegeben werden.
Nehmen wir das Beispiel eines Problem Statements während des Scoping Workshops: Das Team will ein gemeinsames Verständnis über die zu lösenden Probleme, die Zielgruppen, aussagekräftige Metriken zur Messung des Projekterfolges sowie die vorhandenen Rahmenbedingungen gewinnen. Die Struktur des Problem Statements ist vorbereitet, das Team kann nun dessen inhaltliche Ausprägung durch Karten gemeinsam erarbeiten.
Nach der Vorgabe der Struktur wird das Ergebnis Schritt für Schritt kollaborativ erarbeitet und ist damit für alle Workshop-Teilnehmer nachvollziehbar.
2. Einsam und gemeinsam
Was würde wohl passieren, wenn ein Team gemeinsam das Lenkrad eines Autos zu halten versuchte, um ein Ziel anzusteuern? Wir möchten nicht in diesem Auto sitzen. Manche Tätigkeiten übt man offensichtlich besser allein aus. Um beim Beispiel des Fahrens zu bleiben: Effizient ist ein Wechselspiel zwischen einem gemeinsamen Austausch und dem Fahren allein. So können wir uns im Team gemeinsam über den besten Weg zum Ziel unterhalten und gegebenenfalls die Vor- und Nachteile verschiedener Routen abwägen. Danach wird ein Fahrer oder eine Fahrerin ausgesucht und diese Einzelperson übernimmt dann die Fahrt.
Das Wechselspiel von einsamen und gemeinsamen Tätigkeiten ist häufig gleichermaßen effektiv wie effizient. Doch welche Tätigkeiten eignen sich für die Durchführung im Team und welche sollten jeweils alleine durchgeführt werden?
Teamarbeit ist vor allem dann schwierig, wenn viele vergleichsweise kleine Entscheidungen zu treffen sind. Wenn wir einen Prototyp kreieren, so treffen wir viele Entscheidungen von jeweils unterschiedlicher Reichweite: Welches Navigationskonzept wollen wir verwenden? Welche Tiefe einer Unternavigation sehen wir vor? Mit welchen Kategorien arbeiten wir? Würden wir für all diese Entscheidungen einen Konsens im Team suchen, so kämen wir kaum von der Stelle: die Diskussionen wären aufwändig und ermüdend.
Die Kreativmethode Design Studio beispielsweise sieht ein fruchtbares Wechselspiel zwischen Einzel- und Gruppenarbeiten vor, um Lösungsvorschläge für einen Problembereich zu generieren. Es läuft in verschiedenen Schritten ab: In einem ersten Schritt erarbeiten die Teilnehmer zunächst eigenständig verschiedene Lösungsvorschläge. In einem zweiten Schritt werden die resultierenden individuellen Vorschläge dann einander präsentiert und gemeinsam beurteilt. Danach arbeiten die Teilnehmer auf der Basis des erhaltenen Feedbacks wiederum allein an ihren Entwürfen weiter.
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3. Ausbalanciert
In guten Workshops kommen alle Teilnehmer zu Wort. Auch jene, die sich ansonsten zurückhalten. Teilnehmer, die üblicherweise bei jeder Gelegenheit vieles sagen, müssen im Zaum gehalten werden. Anstatt einfach nach Beiträgen zu einem Thema zu fragen, können wir beispielsweise die Teilnehmer eines Workshops auffordern, ihre Ideen auf drei Karten zu schreiben und diese anschließend zu präsentieren.
Ein interessantes Beispiel für eine Methode, welche diesen Aspekt stark berücksichtigt, ist das sogenannte Plädoyer. Es kann direkt nach dem Design Studio eingesetzt werden, um aus den erarbeiteten Ideen eine Auswahl zu treffen. Dazu wird jeder Workshop-Teilnehmer aufgefordert, in einer kurzen Ansprache zu erläutern, welcher Lösungsvorschlag bevorzugt wird und warum dies der Fall ist.
Erst wenn alle Argumente vorgebracht sind, vergeben alle Teilnehmer Punkte, auf deren Grundlage dann die Gruppe entscheidet, welche der Lösungen sie auswählt.
4. Annahmenbasiert
In Teams mit verschiedenen fachlichen Hintergründen kann es immer zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Konflikte sind vorprogrammiert und nicht prinzipiell schädlich – im Gegenteil: Häufig tragen sie Bedeutsames zur Lösungsfindung bei.
Viele Konflikte entstehen im Team weil dessen Mitglieder von unterschiedlichen Annahmen ausgehen. Das Treffen von Annahmen ist für ein Fortkommen im Workshop oft unabdingbar. Häufig lässt sich die Belastbarkeit diese Annahmen nicht unmittelbar überprüfen, wichtig ist jedoch, sich der getroffenen Annahmen bewusst zu werden. Dabei hilft ein Assumption Board. In einem solchen Board werden identifizierte Annahmen während des Workshops auf Karten notiert. Nach und nach entsteht eine Sammlung von Annahmen, die sich später gewichten lassen. Die aufgedeckten Annahmen trägt man in ein Koordinatensystem mit zwei Dimensionen ein: Es wird beurteilt, wie gravierend es für das Projekt wäre, wenn eine Annahme nicht zuträfe und es wird abgeschätzt wie viel das Team tatsächlich zur Annahme weiß.
Lesetipp: In einem weiteren UPLOAD-Artikel lernen Sie die Kreativmethoden „Brainwriting“ und „Collective Notebook“ kennen.
Schlusswort
In einem cross-funktionale Team ist eine effiziente Zusammenarbeit möglich. Die Vorteile einer solchen Kooperation während der Produktkonzeption sind offensichtlich: Das fachübergreifende Know-how des Teams fließt in das Produktdesign mit ein. Oft lassen sich dadurch Probleme, die ansonsten erst bei der Inbetriebnahme entdeckt würden, bereits früh offenlegen. Hohe Revisionskosten und Fehlinvestitionen lassen sich auf diese Weise vermeiden. Anforderungen kann das Team diskutieren und mögliche Lösungen skizzenhaft illustrieren. An die Stelle langer Spezifikationsdokumente treten anschauliche Prototypen. Der mit umfassenden Spezifikationsdokumenten verbundene Aufwand kann drastisch reduziert werden. Das involvierte Team kann sich mit einem Produktkonzept identifizieren — alle Teammitglieder tragen für den Erfolg des Produktes Verantwortung.
Weiterlesen
Beim UPLOAD Magazin finden Sie weitere Beiträge, die diesen Artikel ergänzen. Sie erfahren darin zum Beispiel, was es mit Design Thinking auf sich hat, wie Sie die Lean-Startup-Methode auch in Ihrem Unternehmen einsetzen können oder was hinter agilen Methoden steckt. Sie können außerdem mehr über die Vorteile selbstorganisierter Teams erfahren.
Lesetipp
Dieser Artikel beinhaltet Auszüge aus dem Buch „Collaborative UX Design“ von Toni Steimle und Dieter Wallach, erschienen 2018 im dpunkt-Verlag. Der Verlag über das Buch:
Die Autoren vermitteln dem Leser kompakt und leicht verständlich ein fundiertes Grundwissen zu kollaborativen Methoden des UX Designs. Sie beschreiben die Auswahl und den Einsatz von disziplinübergreifenden UX-Methoden und illustrieren deren Verzahnung in einem auf Workshops basierenden Vorgehensmodell. Der dargestellte kollaborative Ansatz ist in menschzentrierten Entwicklungsmodellen, Design Thinking und Lean UX verwurzelt und stellt ein agiles, hypothesenbasiertes Vorgehen in den Vordergrund.
Sie können dieses Buch als gedrucktes Werk oder E-Book direkt bei dpunkt kaufen. Oder Sie finden es u.a. auch bei Amazon (Affiliate-Link).
Dieser Artikel gehört zu: UPLOAD Magazin 59
Der Erfolg oder Misserfolg einer Website entscheidet sich heute zunehmend auch durch das Erlebnis, das Nutzer damit haben. Diesmal erfahren Sie u.a., was der Unterschied zwischen User Experience und Usability ist, wie Sie beim „Collaborative UX Design“ in sieben Workshops zu einem neuen Produkt kommen und was es mit dem noch vergleichsweise neuen Job des „UX Writers“ auf sich hat. Plus: Ein Blick auf das „Stories“-Format, das das Social Web im Sturm erobert und was das für Unternehmen und ihr Marketing bedeutet.
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Toni Steimle ist Ökonom und leitet mit der Ergosign Switzerland AG einen führenden UX-Design-Dienstleister. Er lehrt an der Hochschule Rapperswil, an der Hochschule Olten und der Universität Basel rund um Themen des User Experience Design. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Vorgehensmodelle der Softwareentwicklung, User-Experience-Strategien, Kreativität und digitale Märkte.
Dieter Wallach ist promovierter Kognitionswissenschaftler und prägte als UX-Pionier und Hochschullehrer die deutschsprachige User-Experience-Szene mit. Er ist Gründer und Co-Geschäftsführer der Ergosign GmbH. Er erhielt Rufe an die Universität Würzburg und an die Hochschulen Heilbronn, Trier und Kaiserslautern. Dieter Wallach forscht und lehrt als Professor für Human-Computer Interaction und Usability Engineering im Fachbereich Informatik und Mikrosystemtechnik an der Hochschule Kaiserslautern.